Europa

Kiew wird Russland nur mit massiver militärischer Hilfe des Westens zurückdrängen können

Der kollektive Westen hat bekundet, dass die Ukraine im Krieg gegen Russland gewinnen soll. Aber ist er auch bereit, Kiew mit den Waffen zu beliefern, die es für einen Sieg braucht? Wenn ja, wird sehr viel Zeit benötigt, diese in Kampfbereitschaft zu bringen.
Kiew wird Russland nur mit massiver militärischer Hilfe des Westens zurückdrängen könnenQuelle: AP © Efrem Lukatsky

Eine Analyse von Michail Chodarjonok

Die Teilnehmer des NATO-Gipfels in Madrid forderten den ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij auf, sich mit nichts weniger als einer militärischen Lösung des Konflikts in der Ukraine zufrieden zu geben. Der belgische Premierminister Alexander De Croo äußerte sich zur Position der NATO-Mitglieder wie folgt: "Es ist sehr wichtig, die Gespräche mit Präsident Wladimir Selenskij fortzusetzen und zu betonen, dass der Krieg nur auf dem Schlachtfeld gewonnen werden kann. Wir müssen Präsident Selenskij und die Bevölkerung der Ukraine weiterhin unterstützen, damit sie auf dem Schlachtfeld gewinnen können."

Die militärischen, politischen und strategischen Ziele des kollektiven Westens im bewaffneten Konflikt in der Ukraine haben mindestens zwei Facetten. Die erste Facette besteht darin, das russische Militär daran zu hindern, während seiner Militäroperation in der Ukraine Erfolge zu erzielen. Die zweite besteht darin, Chinas möglichen Bestrebungen, sein Taiwan-Problem mit militärischen Mitteln zu lösen, Einhalt zu gebieten.

Damit die Ukraine jedoch die Oberhand gewinnen kann, müssten die Streitkräfte der Ukraine (AFU) zumindest die Lufthoheit erlangen – zumindest während einer Offensive oder eines Gegenangriffs von strategischem Ausmaß und das zumindest für eine Weile – sowie eine zahlenmäßige und qualitative Überlegenheit bei der Artillerie und den Panzertruppen erreichen. Zudem müsste die AFU ausreichende materielle Ressourcen wie Kerosin, Dieselkraftstoff, Benzin, Munition und Lebensmittelvorräte für einen mindestens 30 Tage dauernden Kampfeinsatz bevorraten.

Aber selbst mit Hilfe des kollektiven Westens wäre dies eine sehr schwer zu lösende Aufgabe. Besonders schwierig sieht es bei der Umsetzung aus. Nehmen wir als Beispiel die ukrainische Luftwaffe und einige andere Bereiche ihrer Streitkräfte.

Um die Vorherrschaft in der Luft zu erlangen oder zumindest auf Augenhöhe mit der russischen Luftwaffe zu kämpfen, würde die ukrainische Luftwaffe mindestens 126 multifunktionale Jäger – das heißt drei Regimenter mit jeweils 42 Flugzeugen – ferner drei Staffeln mit je zwölf Kampfflugzeugen und sechs Trainingskämpfer mit Dual-Kontrolle brauchen. Es ist durchaus möglich, dass diese Einheiten wie jene der Vereinigten Staaten und anderer NATO-Staaten organisiert werden, also in Staffeln von 24 Flugzeugen, wobei drei Staffeln jeweils zu einem Geschwader zusammengefasst werden.

Unter den möglichen Anwärtern, das Standard-Kampfflugzeug der Ukraine zu werden, ist der wahrscheinlichste Kandidat die amerikanische F-16C/D, die derzeit von der US-Luftwaffe aus dem Dienst genommen und durch die F-35 ersetzt wird. Es ist jedoch nicht so, dass eine konkrete Entscheidung zu diesem Thema gefallen wäre – darüber wurde noch nicht einmal diskutiert.

Versuchen wir uns nun vorzustellen, wie der Prozess der Umrüstung der ukrainischen Luftwaffe mit grundlegend neuen Flugzeugen ablaufen würde. Zunächst müssten mindestens 200 Piloten zur Umschulung in die Vereinigten Staaten geschickt werden, damit auf jedes Flugzeug mindestens zwei Piloten kommen. Auch Wartungspersonal und Flugzeugmechaniker müssten zur Umschulung entsandt werden. Die Anzahl dieser Spezialisten würde um eine Größenordnung größer sein als die Anzahl der tatsächlichen Piloten.

Das Flugzeug selbst ist in der Luftfahrt jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Die Ukraine müsste nicht nur mit Kampfflugzeugen versorgt werden, sondern auch mit der gesamten Ausrüstung für die Flugplätze, angefangen von Treibstofftanks und dem erforderlichen Treibstoff bis hin zum Treibstoff für den Betrieb der verschiedenen benötigten Aggregate sowie Tanklastwagen und die Transportwagen, mit denen die schweren Waffen zu den Flugzeugen transportiert werden, um sie damit zu bewaffnen.

Absolut keine ukrainische Ausrüstung ist mit amerikanischen Kampfflugzeugen kompatibel, da alles in der Sowjetunion hergestellt wurde. Nicht einmal die möglicherweise noch vorhandenen Freifallbomben, die sich in Größe und in der Aufhängevorrichtung von ähnlichen Bomben aus den USA unterscheiden.

Darüber hinaus müssten die USA und weitere NATO-Staaten die ukrainische Luftwaffe mit der gesamten Palette an Bewaffnung versorgen, von gelenkten und ungelenkten Waffen verschiedener Klassen bis hin zu Freifallbomben – und das in ausreichender Menge, damit sie für eine lange Periode der Feindseligkeiten ausreichen.

Mit dem Transfer westlich hergestellter Kampfflugzeuge in die Ukraine wird sich zwangsläufig das Problem der Gefechtskontrolle ergeben. Die amerikanischen F-16 sind in keiner Weise in die automatisierten Kommando- und Kontrollsysteme der ukrainischen Luftwaffe integrierbar. Um dieses Problem zu lösen, müssten die Vereinigten Staaten der ukrainischen Luftwaffe möglicherweise zusätzlich Flugzeuge wie die Hawkeye E-2C/D liefern – ein taktisches Frühwarnflugzeug, das mit einem Fernradar ausgestattet ist. Ohne solche Mittel wird es einfach unmöglich sein, Flugzeuge während der Luftkämpfe und Angriffe gegen Bodenziele effektiv zu führen.

Jetzt bleibt nur noch zu berechnen, wann diese drei Flugregimenter die "initiale Einsatzbereitschaft" erreichen werden, wie es in den USA genannt wird. Nach den optimistischsten Prognosen wird dies nicht vor dem nächsten Winter passieren.

Das ungefähr selbe Bild sehen wir bei der Bildung von Panzerdivisionen – wenn auch sicherlich weniger kompliziert. Um der AFU Offensivpotenzial zu verleihen, benötigen sie mindestens vier bis fünf Panzerbrigaden mit jeweils 120 bis 140 Kampfpanzern. Die wären mit M1 Abrams ausgestattet, wobei es in diesem Fall mögliche Optionen gäbe – den deutschen Leopard-2 oder den französischen Leclerc. Aber auch in diesem Fall müssten die ukrainischen Panzerbesatzungen alle notwendigen Phasen durchlaufen – Schulung, Beschaffung der neuen Panzer sowie deren Ausrüstung und Übungen mit scharfer Munition. Daher wird es nicht möglich sein, auch dieses Problem in kurzer Zeit zu lösen.

Bei der Bodenartillerie und den Mehrfachraketenwerfern wird es einfacher. Die AFU wird diese schnell genug meistern können. Aber auch hier werden die Prozesse des Erwerbs und der Beherrschung dieser Waffen in keiner Weise gleichzeitig geschehen. Es wird viele Monate dauern, sieben bis acht Artillerie-Brigaden mit jeweils 72 Kanonen zu bilden – denn so viele werden benötigt – um sie anschließend auf das Niveau der Kampfbereitschaft zu bringen.

Und während dieser Zeit könnte sich das politische Umfeld und die strategische Situation an der Front erheblich verändert haben. Es gibt überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass dies zugunsten der Ukraine sein wird. Womit nur eine Schlussfolgerung gezogen werden kann – die russischen Streitkräfte müssen signifikante Ergebnisse an der Front erzielen, ohne darauf zu warten, dass die Ukraine mit fortschrittlichen modernen Waffen nach westlichem Standard aufgerüstet wird. Mit anderen Worten, die Zeit, die für die Ausrüstung der AFU benötigt wird, zum eigenen Vorteil nutzen.

Michail Chodarjonok ist Militärkommentator für RT. Er ist ein Oberst im Ruhestand. Er diente als Offizier in der Hauptdirektion des Generalstabs der russischen Streitkräfte.

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