Deutschland

Esst doch Kuchen statt Brot: Vom Zustand der deutschen Politik

Mit der Initiative der Bundeskanzlerin, die Vergabepraxis der Essener Tafel für Notdürftige in Erwartung eines günstigen Moments für politische Zustimmung zu kritisieren, ist ein vermeintlich cleverer Schachzug nach hinten losgegangen.
Esst doch Kuchen statt Brot: Vom Zustand der deutschen PolitikQuelle: Reuters © Reuters

von Gert Ewen Ungar

Jean-Jacques Rousseau war es, der eine Geschichte über Marie-Antoinette verbreitete, die zum geflügelten Wort wurde.

Am Vorabend der Französischen Revolution soll sich laut ihm ein Dialog zwischen der französischen Königin und ihrem Diener zugetragen haben, nachdem sie Tumult wahrgenommen hatte. Auf die Frage, was die Menschen dort wollen, soll er geantwortet haben: “Sie haben Hunger.” Und auf die Frage, warum sie dann kein Brot essen, soll der Diener geantwortet haben “Sie haben keins”. “Und warum essen sie keinen Kuchen?”, soll die Königin in Verkennung der gesellschaftlichen Realitäten gefragt haben.

Die Geschichte ist weithin bekannt, obwohl sie sich in dieser Form wohl nie zugetragen hat und der Kuchen im französischen Original Brioches sind. Dennoch wurde sie über die Jahrhunderte überliefert, denn sie verdeutlicht pointiert den Zustand eines Systems kurz vor seinem Zusammenbruch.

Die Geschichte steht für die Entkopplung der Sphäre der Politik von den gesellschaftlichen Lebenswelten. Sie steht für die Isolation des politischen Establishments, das den Kontakt zu jenen verloren hat, für die es Entscheidungen trifft. Und sie steht für eine Art des Regierens, bei der interne Regelungen und Rücksichtnahmen, bei der Selbstbezüglichkeit wichtiger geworden sind als die Analyse und Steuerung des Ganzen.

Die Anekdote steht kurz gesagt für eine Regierung, die das Wohl der Bürger völlig aus den Augen verloren hat. In ihr zeigen sich prägnant alle Facetten politischer Dekadenz. Sie zeigt sich in diesem einen Moment, dem Marie-Antoinette-Moment.

In der vergangenen Woche dominierte eine Diskussion die Bundesrepublik, in der es darum ging, an wen und von wem abgelaufene Lebensmittel im Rahmen der Armenspeisung verteilt werden.

Die Essener Tafel hat entschieden, künftig keine neuen ausländischen Bedürftigen mehr aufzunehmen. Daraufhin erntete die Essener Tafel aus der bürgerlichen und politischen Mitte einen Shitstorm, der sich gewaschen hatte. Die Wohlstandskinder der radikalen Mitte, die Antifa, beschmierte die Fahrzeuge der Organisation. Ein weiterer Beleg dafür, dass die Antifa inzwischen nichts anderes mehr ist als der Schlägertrupp des Establishments. Doch das ist lediglich ein Nebenschauplatz, an dem jedoch ebenfalls Dekadenz sichtbar wird.

Notwendigkeit von Tafeln ein Ergebnis von Merkels Sozialpolitik

Doch wichtiger war etwas anderes. Angela Merkel, die sich nicht gerade durch große Sprachgewandtheit und empathische Einfühlung auszeichnet, witterte einen günstigen Moment und sprang auf den Zug auf, der durch die Medien raste. Sie kritisierte die Vergabepraxis der Essener Tafel und schielte auf Lob ihres Klientels. Bekommen hat sie dagegen eine strenge Rüge vom Bundesvorsitzenden der Tafeln in Deutschland Jochen Rühl. Es sei die Politik der vergangenen Jahre, es sei die Politik Merkels, durch die Tafeln notwendig geworden sind. Das lässt sich nicht von der Hand weisen. Merkel schweigt seitdem zum Thema.

Das war Merkels Marie-Antoinette-Moment. Es war nicht ihr erster, aber es war der bisher deutlichste. Im Aufeinandertreffen mit einem Azubi in der Krankenpflege oder im Kontakt mit einem von Abschiebung bedrohten Kind, immer dann, wenn Merkel mit der von ihr geschaffenen Realität konfrontiert wird, beschenkt sie die Republik mit einem dieser Momente.

Auch dieses Mal wird sie in die Schranken gewiesen. Sie wird öffentlich vorgeführt. Ihre absolute Ahnungslosigkeit hinsichtlich der weitreichenden Folgen der eigenen Politik und ihre desaströsen Auswirkungen auf die Bürger wird für einen Moment deutlich sichtbar. Merkel steht völlig nackt da – und jeder kann es sehen. Sie trägt die Verantwortung für Zustände, die sie kritisiert. Sie ist im Hinblick auf die drastischen Folgen ihrer eigenen Politik offenkundig völlig ahnungslos. Sie ist eine dekadente Politikerin.

Merkel ist als langjährige Regierungschefin zentral dafür verantwortlich, dass Armut und Verteilungskämpfe am unteren Ende der Gesellschaft in einem unglaublichen Ausmaß zugenommen haben, während am oberen Ende die Gewinne und Einkommen in obszönem Ausmaß wachsen. Wer die Kritik an der Entwicklung noch als Neiddebatte abtut, verkennt die gesellschaftliche Sprengkraft, die sich hier zeigt.

Um die eigenen Macht zu festigen, verlangt das System Merkels den Bürgern immer größere Zugeständnisse und Entbehrungen ab, die sie dorthin verteilen kann, woher sich ihre Macht speist.

Neoliberales Gesellschaftssystem in Deutschland zum Scheitern verurteilt

Umringt, eingebettet und dadurch abgeschnitten vom Zugang zu den Lebenswelten der Menschen in Deutschland, verlegt sich das politische Berlin auf ein Spiel, bei dem die Interessen der Menschen in Deutschland und Europa preisgegeben werden. Der eingeschlagene Kurs wird weder reflektiert und schon gar nicht korrigiert. Der aktuelle Koalitionsvertrag liest sich daher wie eine große Realitätsverweigerung, sowohl im Hinblick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland als auch in der Europäischen Union. Das politische Subjekt wird zum Objekt des Taktierens um Machterhalt, Posten und Pfründe. Deutschland, die politisch dekadente Republik.

Das ging historisch noch nie gut und wird auch aktuell nicht gut gehen. Wenn die Ungerechtigkeit zu groß wird, bricht das System auseinander. Die neoliberale Gesellschaft ist in hohem Maße ungerecht. Sie hat daher keine Überlebenschance.

Wem das zu abstrakt ist, der möge bitte den nächstgelegenen öffentlichen Mülleimer für eine Weile genauer im Auge behalten und zählen, wie oft sich da jemand die Mühe macht, den Arm in den Müll zu stecken, um eventuell eine Pfandflasche zu ergattern. Und der möge auch aufmerksam verfolgen, wie verteilt die Reviere inzwischen schon sind. Am unteren Ende der Gesellschaft sind selbst die öffentlichen Mülleimer und ihr Inhalt aufgeteilt. Es ist festgelegt, wer wann in den Dreck greifen darf. Am unteren Ende streitet man um den Müll der anderen. Deutschland geht es gut.

In diesem Zusammenhang die Verteilungsfrage zu stellen, hat mit Neiddebatte schon längst nichts mehr zu tun.

Es geht vielen um die Existenz, die das Merkel-System, das jetzt noch einmal um weitere vier Jahre verlängert wird, in zunehmendem Maße bedroht. Und diese vier weiteren Jahre verheißen nichts Gutes. Für die Mehrheit der Menschen in Deutschland nicht, aber auch nicht für die Bürger der Europäischen Union. Wer glaubt, die derzeitigen Zerfallserscheinungen der EU seien wild agierenden Rechtspopulisten geschuldet und nicht einer völlig verfehlten makroökonomischen Politik unter deutscher Führung, verkennt Ursache und Wirkung.   

Das absurde Theater der Sondierungen und der anschließenden Koalitionsverhandlungen hat gezeigt, dass politisch die Einheitsfront steht. Das System Merkel kann im Grunde mit allen Parteien außer der Linken.

Parteien wollen keine Verantwortung übernehmen

Wandel oder etwa gar Einsicht in das völlige Versagen angesichts der großen Fragen wird im deutschen Polit-Theater nicht geboten. Bei keiner der Parteien, die für das aktuelle Auseinanderdriften die Verantwortung tragen. Das ist erschreckend.

Dabei gibt es selbstverständlich die Alternative zum angeblich alternativlosen, neoliberalen Weiter-so der Merkel-Ära. Natürlich gibt es etwas Besseres als marktkonforme Demokratie. Echte Demokratie nämlich. Diese echte Demokratie muss von der Dominanz der Märkte befreit werden. Dazu bedarf es aber des politischen Willens, sich zentrale Steuerungsinstrumente nicht aus der Hand nehmen zu lassen. Wer nach dreißig Jahren neoliberaler Doktrin noch immer meint, die Kräfte des Marktes würden es für alle zum Guten regeln, ist entweder von einem tiefen Zynismus beseelt, lebt in einem politischen Elfenbeinturm ohne Kontakt zur gesellschaftlichen Realität oder ist schlicht stinkefaul, weil er die dringend notwendige politische Auseinandersetzung mit den Finanzmärkten und Konzernen scheut. Kombinationen aus alledem sind freilich möglich.

Nach dreißig Jahren neoliberaler Doktrin lässt sich nur eins feststellen: Der Neoliberalismus ist als gesellschaftliches und ökonomisches System gescheitert.

Märkte sind zum Regulieren da, müsste das Credo der Politik inzwischen heißen. Wir können uns die vielen Armen einfach nicht leisten und die wenigen Reichen erst recht nicht. Wir müssen in ganz großem Stil umdenken und zurückkehren zu einer wirtschaftlichen Ordnung, die frei von Finanzkrisen arbeitet. Wir können es uns einfach nicht leisten, dass alle paar Jahre ein ökonomischer Tsunami unsere Gesellschaften erschüttert.

Und ein solches System gibt es ja. Es ist der keynesianische Wohlfahrtsstaat. Dieses Modell müssen wir wieder aufnehmen, daran anknüpfen und an die aktuellen Gegebenheiten anpassen. Wenn das nicht passiert, werden die Erschütterungen zunehmen.  

Doch von dieser Einsicht, vor allem aber dem politischen Mut, diesen Schritt zu tun, ist das System Merkel himmelweit entfernt. Auch davon erzählt ihr aktueller Marie-Antoinette-Moment.

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