International

Botschafter Netschajew: Wir unterscheiden zwischen Volk und politischen Eliten in Deutschland

Der außerordentliche und bevollmächtigte Botschafter der Russischen Föderation in Deutschland Sergei Jurjewitsch Netschajew hat exklusiv Fragen von RT DE zu aktuellen Themen beantwortet. Es geht dabei insbesondere um die Veränderungen, die seit dem Beginn der militärischen Spezialoperation Russlands vor einem Jahr eingetreten sind, aber auch um die Perspektiven der russisch-deutschen Beziehungen insgesamt.
Botschafter Netschajew: Wir unterscheiden zwischen Volk und politischen Eliten in DeutschlandQuelle: www.globallookpress.com © Kay Nietfeld / dpa

RT DE: Herr Botschafter, im Jahr 2022 haben wir "tektonische Brüche" in den deutsch-russischen Beziehungen erlebt. Hat es Sie überrascht, dass Deutschland die Ukraine so radikal unterstützt?

Netschajew: Lassen Sie uns unterscheiden zwischen den einfachen Menschen in Deutschland und den "politischen Eliten". Die deutsche Außenpolitik wird heute von den Letzteren bestimmt. Was sie betrifft, ist mir alles klar. Den Beginn der militärischen Spezialoperation in der Ukraine nahmen sie sich zum Anlass, das einst robuste und über Jahrzehnte aufgebaute Gerüst der deutsch-russischen Beziehungen zu zerstören. Über Nacht wurden fast alle bilateralen Formate einer von ihrem Ausmaß her einzigartigen Zusammenarbeit zugrunde gerichtet oder auf Eis gelegt. Berlin stellte sich voll und ganz hinter die Strategie, Russland einen möglichst großen militärischen, politischen und wirtschaftlichen Schaden zuzufügen. Man verfolgt das Ziel, die innenpolitische Lage in unserem Land zu destabilisieren. Darüber müsste man sich im Klaren sein.

Deutschland machen jedoch vor allem seine Menschen aus. Kontakte zu ihnen haben wir niemals abgebrochen. Viele von ihnen sehen die aktuellen Entwicklungen realistisch und trotzen der eklatanten antirussischen Propaganda. Die Menschen stellen sich die Frage: Wer profitiert denn von den heutigen Entwicklungen? Und antworten: Auf jeden Fall sind es nicht Deutschland und sein Volk. Der Unmut über die antirussische Politik wächst vor allem in den ostdeutschen Bundesländern, also im ehemaligen DDR-Raum weiter, wo man uns besser kennt und um unsere historischen Verbindungen besser Bescheid weiß.

RT DE: Wie beeinflussen diese Entwicklungen die Arbeit der Botschaft?

Netschajew: Nach Beginn der militärischen Spezialoperation haben sich die Rahmenbedingungen für unsere diplomatische Vertretung erheblich verändert. Deutsche Ministerien und Behörden haben Kontakte zu unserer Botschaft auf ein Minimum reduziert. Neben dem Abbau des politischen Dialogs sind es auch rein technische Probleme, mit denen wir es zu tun haben, da unsere gewohnten Partner unter deutschen Firmen und Unternehmen sich weigerten, mit der Botschaft zusammenzuarbeiten, die Versorgungsinfrastruktur unserer weiteren Auslandsvertretungen zu warten usw.

Wir versuchen, alle in dem Zusammenhang auftretenden praktischen Fragen zu lösen. Unsere Position vermitteln wir an die deutsche Öffentlichkeit über alle uns zur Verfügung stehenden Kanäle und Tools. Wir unterstützen unsere Landleute darin, ihre Rechte und Interessen zu schützen. Russische Auslandsvertretungen in Deutschland sind absolut funktionsfähig.

RT DE: An welche Zeit fühlen Sie sich persönlich durch diese Krise erinnert?

Netschajew: Die aktuelle Krise in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen ist einmalig. Der Westen steht ganz nah an der gefährlichen Linie, hinter der eine direkte Verwicklung in einen militärischen Konflikt kommt, und will offenkundig einen weiteren Schritt nach vorne machen.

Der Unterschied zu früher besteht hauptsächlich darin, dass selbst in kritischsten Zeiten direkte Kommunikationskanäle zwischen beiden Seiten aufrechterhalten wurden. Dadurch konnte man besonders drängende Probleme zur Sprache bringen und zum Abbau der Spannungen beitragen. Heutzutage lassen westliche Vertreter keine glaubhafte Bereitschaft erkennen, auf unsere Sorgen und Interessen Rücksicht zu nehmen. Es wird weiter an der Eskalationsspirale gedreht. Ein sehr gefährlicher Weg ist das.

RT DE: Wie würden Sie die deutsche Entscheidung über die Weitergabe von Leopard-Kampfpanzern an die Ukraine aus geschichtlicher Perspektive einschätzen? Wie wird dieser Beschluss die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen beeinflussen?

Netschajew: Die Bundesregierung hat nicht nur bloß Lieferungen schwerer Kampfpanzer vom Typ Leopard beschlossen. Sie ermöglichte es auch anderen Ländern, deren Waffenbestände diese tödlichen Waffen umfassen, diese an die Ukraine weiterzugeben. Man verstieß damit gegen ein unumstößliches Gebot, das über alle Nachkriegsjahrzehnte zu den Stützpfeilern der deutschen Außenpolitik gehörte und deutsche Waffenlieferungen in Konfliktgebiete untersagte.

Dieser Beschluss ist aus unserer Sicht extrem gefährlich. Er trägt eindeutig dazu bei, dass der Konflikt eine neue Eskalationsstufe erreicht, und steht in direktem Widerspruch zu den Äußerungen deutscher Politiker, Deutschland wolle nicht zur Konfliktpartei werden.   

Die Gangart Berlins bedeutet de facto eine Abkehr der Bundesrepublik von ihrer historischen Verantwortung gegenüber unserem Volk für grauenhafte und nicht verjährende Nazi-Verbrechen im Großen Vaterländischen Krieg. Heute ist es nicht üblich, sich daran zu erinnern, wie dankbar die Deutschen unserem Volk für die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus, für die Versöhnung in der Nachkriegszeit und für die Deutsche Einheit waren, an der unser Land auch einen entscheidenden Anteil hatte.

RT DE: Im bekannten "2+4"-Vertrag wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass von nun an nur Frieden von deutschem Boden ausgehen werde. Werden die Verpflichtungen von 1990 von Berlin nun doch verletzt?

Netschajew: Unter Artikel 2 des Vertrages über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland ist tatsächlich festgehalten, dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen werde und das vereinte Deutschland keine Handlungen umsetzen bzw. auf seinem Gebiet zulassen werde, die geeignet seien oder gar in der Absicht vorgenommen würden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten. Diese freiwillige Verpflichtung Deutschlands gehört zu den wichtigsten Vertragsbestimmungen.

Sie fragen, inwiefern die Rolle, die der kollektive Westen der Bundesrepublik an der Ostflanke der NATO zugedacht hat, sich mit der genannten Verpflichtung vereinbaren lässt. Hier gibt es einiges, worüber man nachdenken könnte. Die Frage ist nur, ob man nachdenken will.

RT DE: Wie bewerten Sie die Reaktion in Deutschland auf die öffentlichkeitswirksamen Enthüllungen des amerikanischen Investigativjournalisten Seymour Hersh, der Politiker in Washington, D.C. als Drahtzieher hinter den Sabotageangriffen auf die Gasleitungen Nord Stream und Nord Stream 2 sieht?

Netschajew: Die Reaktion der deutschen Vertreter auf diese überzeugenden Enthüllungen fiel extrem trocken aus. Es wird behauptet, der Bundesregierung lägen keine Erkenntnisse vor, die die von Hersh publik gemachten Informationen belegen würden. Zu Details der laufenden Ermittlungen äußere man sich jedoch aus Gründen der Vertraulichkeit nicht. Diese ausweichenden Antworten bestärken nur den Verdacht, dass Dänemark, Schweden und Deutschland einiges zu verbergen haben.

Unsere Anregung, russische Experten in die Untersuchung mit einzubinden, findet kein Verständnis. Ein entsprechendes Schreiben, das der russische Regierungsvorsitzende Michail Mischustin am 5. Oktober 2022 an den Bundeskanzler Olaf Scholz richtete, blieb bislang unbeantwortet.

Im Deutschen Bundestag hingegen lösten die Enthüllungen von Hersh heftige Debatten aus. Die Oppositionsparteien interessiert es, ob man in Berlin von dem von den USA geplanten Sabotageakt gewusst habe. Man fordert vom Bundeskabinett, dem Parlament und der Öffentlichkeit über den Fortgang der seit September 2022 laufenden Ermittlungen Rede und Antwort zu stehen. Mit den Sabotageangriffen auf die Gasleitungen wurde auch der deutschen Wirtschaft ein erheblicher Schaden zugefügt, wurden doch bei dem Pipelinebau nicht unbeträchtliche Investitionen deutscher Firmen getätigt. Ohne Umschweife erhob man gegen die Bundesregierung Vorwürfe, Fakten zu unterschlagen und kein Interesse an der Feststellung der Täter zu haben, die dieses wichtigste Objekt der europäischen Energieinfrastruktur beschädigt hatten.

Von unserer Seite sehen wir die Explosionen an den Gaspipelines als einen Akt des internationalen Terrorismus an. Die hinter dieser Sabotage stehenden Länder müssen zur Rechenschaft gezogen, einer Strafe zugeführt werden und Schadenersatz zahlen.

RT DE: Gibt es Ihrer Einschätzung nach unter deutschen Politikern auch diejenigen, die Russland unterstützen oder zumindest versuchen, neutral zu bleiben? Inwiefern ist es derzeit überhaupt möglich, Sympathien gegenüber Russland kundzutun?

Netschajew: Unter den politischen Kräften sind es vor allem die Alternative für Deutschland und einige Teile der Linkspartei, die sich dialogbereit zeigen und dafür schonungslos kritisiert werden. Was informelle, vertrauliche Kontakte betrifft, so werden diese in der einen oder anderen Form mit Vertretern aller politischen Parteien gepflegt. Derzeit sind eine offene Unterstützung der russischen Außenpolitik oder offene Sympathien für unser Land in Deutschland mit Risiken verbunden. Das gilt sowohl für Personen des öffentlichen Lebens als auch für einfache Bürgerinnen und Bürger. Es kann soweit kommen, dass man dafür strafrechtlich verfolgt wird.

In letzter Zeit beobachten wir jedoch ein aktiveres Auftreten der gesellschaftspolitischen Kräfte in Deutschland, die sich für eine friedliche Lösung der Ukraine-Krise und gegen weitere Waffenlieferungen an Kiew aussprechen. Dieser Trend deutet darauf hin, dass bei Weitem nicht alle Deutschen eine militärische Konfliktlösung gutheißen.

RT DE: Gibt es noch Schnittmengen zwischen Russland und Deutschland oder bleibt nun zwischen beiden Ländern nur "verbrannte Erde"?

Netschajew: Die deutsch-russischen Beziehungen bieten derzeit ein trostloses Bild. Die meisten bilateralen Kooperationsformate hat Berlin entweder zerstört oder auf Eis gelegt. Die deutsche Seite lehnt Kontakte mit russischen Vertretern praktisch ab. Es ist nicht zu erwarten, dass das frühere Niveau der Kommunikation in absehbarer Zeit wiederhergestellt werden kann. Gewisse positive Entwicklungen bleiben in der Kriegsgräberfürsorge erhalten. Die Verpflichtungen im Rahmen des bilateralen Abkommens über Kriegsgräberfürsorge in der Bundesrepublik Deutschland und in der Russischen Föderation vom 16. Dezember 1992 werden von der deutschen Seite immer noch verantwortungsvoll erfüllt. Sowjetische Kriegsgräberstätten werden im Großen und Ganzen in würdiger Weise instandgehalten und kontinuierlich gepflegt. An einigen Grabstätten werden planungsmäßig Sanierungsarbeiten durchgeführt.

RT DE: Wie sehen Sie die Entwicklung der russisch-deutschen Beziehungen in den nächsten Jahren?

Netschajew: Die gegenwärtige Krise ist in der Nachkriegsgeschichte des deutsch-russischen Verhältnisses ohnegleichen. Heute können wir leider keine echte Bereitschaft im politischen Berlin erkennen, die bilateralen Beziehungen wiederherzustellen und unseren rechtmäßigen Interessen und Besorgnissen Rechnung zu tragen.

In einer solchen Situation ist es vergebliche Mühe, Voraussagen zu treffen. Wir können nur darauf hoffen, dass deutsche Politiker früher oder später einsehen, dass Steine gesammelt werden müssen, jede Druckausübung auf Russland nutzlos wäre und der Aufbau der guten nachbarschaftlichen Beziehungen mit unserem Land im Sinne des Friedens und der Stabilität auf dem europäischen Kontinent alternativlos ist. Es wäre äußerst naiv und illusorisch zu glauben, dass ein stabiles Sicherheitssystem in Europa ohne oder gar gegen Russland gestaltet werden könnte. Wie Präsident Wladimir Putin in seiner Ansprache an die Föderale Versammlung der Russischen Föderation zu Recht betonte, wollen wir uns für unsere Position entschlossen einsetzen: In der gegenwärtigen Welt dürfen die Länder nicht in zivilisierte Staaten und in den Rest eingeteilt werden. Es braucht eine ehrliche Partnerschaft, die jeder Ausschließlichkeit abschwört.

Mehr zum Thema - Interview mit Lawrow: Ziele der Sonderoperation, Druck des Westens und "Endlösung der Russenfrage"

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.

Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.