Meinung

Menschenrechte: Die Heuchelei des Westens ist atemberaubend

Das Schweigen über Todesfälle indigener Kinder in Kanada zeigt, dass es bei Menschenrechten zweierlei Maß gibt. Während der Westen China wegen Xinjiang anprangert, bleibt es in Fall Kanadas auffallend ruhig, obwohl dort immer mehr Massengräber zum Vorschein kommen.
Menschenrechte: Die Heuchelei des Westens ist atemberaubendQuelle: www.globallookpress.com © Stefan Boness/Ipon via imago stock&people

von Tom Fowdy

Am vergangenen Donnerstag wurden 751 Gräber bei einer ehemaligen Internatsschule in Kanada gefunden, was das Ausmaß dieses nationalen Skandals um eine weitere Dimension ausweitet, nachdem bereits vor einigen Wochen 215 Leichen bei einer anderen Schule entdeckt worden waren.

Die Funde werfen ein grelles Licht auf eine dunkle Seite der kanadischen Geschichte, von der die Welt bisher wenig wusste. Es scheint, dass Kanada über einen längeren Zeitraum Schauplatz entsetzlicher Menschenrechtsverletzungen war. Und all diese unangenehmen Enthüllungen erfolgen inmitten eines erneuten Versuchs der Regierung in Ottawa, zusammen mit anderen westlichen Staaten, wegen angeblicher Ereignisse in der autonomen Region Xinjiang, Druck auf China auszuüben – wo man Peking dessen beschuldigt, was in Kanada tatsächlich passiert ist.

Ich habe erst kürzlich über den Schlagabtausch bei den Vereinten Nationen in der Xinjiang-Frage und Pekings Reaktion darauf geschrieben. Aber die Ironie ist: Wären diese Gräber statt in Kanada in China gefunden worden, hätte die "internationale Gemeinschaft" dies umgehend als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" oder sogar als "Völkermord" gebrandmarkt. Doch Kanada scheint mit einer einfachen Entschuldigung die internationale Gemeinschaft zufriedenzustellen, ohne dass die Verantwortlichen tatsächlich zur Rechenschaft gezogen werden.

Die Entdeckung dieser Gräber ist jedoch bedeutsam, da sie unser Verständnis von Kanada und seiner Vergangenheit völlig neu definiert. Und insbesondere wirft sie ein Licht auf das Wesen der "Anglosphäre" – dieses Sprach- und Kulturraums, der die Länder Australien, Kanada, Neuseeland und die Vereinigten Staaten sowie das Vereinigte Königreich umfasst und aus dem das British Empire entstandenen ist.

Diese fünf Länder – wenn auch im Falle Neuseelands vielleicht etwas weniger ausgeprägt – sind nicht nur durch ein gemeinsames Erbe aus dem Vermächtnis des britischen Imperialismus verbunden, sondern auch durch einen einigenden Eifer in einer absolutistischen und moralischen Erhabenheit, dem selbst erteilten Recht, das Weltgeschehen zu kontrollieren, zu diktieren und die eigenen Werte weltweit durchzusetzen. Obwohl diese Länder sich und ihren Reichtum auf die Unterdrückung indigener Völker aufgebaut haben, präsentierten sie sich der Welt häufig als Heilsbringer.

Kanada ist wohl das auffälligste Beispiel. Auch wenn es nicht allgemein eingestanden wird, so ist sich die Welt bis zu einem gewissen Grad bewusst, dass Australien, Großbritannien und die USA keine makellosen geschichtlichen Hintergründe haben. Aber nur wenige sind sich darüber im Klaren, dass Kanada im Kern ein Kolonialstaat ist, der sich seit den 1960er-Jahren als liberale Utopie neu vermarktet hat und sich heute als Leuchtturm fortschrittlicher und wohlwollender Staatsführung präsentiert.

Als Brite bin ich mit einer idyllischen Vision von Kanada groß geworden, einem Land, das im Vergleich zu seinem aggressiveren südlichen Nachbarn, den Vereinigten Staaten, unschuldig, wohlhabend und begehrenswert war. Während Kanada eindeutig ein sehr wünschenswerter Ort zum Leben ist und nur wenige die Lebensqualität in Frage stellen würden, sei die Frage erlaubt: zu welchem Preis? Die traumatische Geschichte indigener Zwangsinternierter, von denen Tausende starben und in nicht markierten Gräbern begraben und deren Dokumentation zudem vernichtet wurden, ist ein beschämender Fleck in Kanadas Vergangenheit.

Manche halten dem das Argument entgegen, dass Kanada sich seitdem verändert und weiterentwickelt hat. Mag sein, jedoch nur in einer Weise, die man als oberflächlich bezeichnen muss. Wie der Rest der Anglosphäre auch, trägt Kanada immer noch das Gefühl der moralischen Überlegenheit in sich. Der Glaube an die eigene Darstellung als absoluter Maßstab der Rechtschaffenheit dient wiederum dazu, Reue für die Episoden aus der eigenen Geschichte zu unterdrücken. Das Land begegnet den aufgedeckten Verbrechen weitgehend ungerührt und desinteressiert und konzentriert sich stattdessen darauf, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Kanada vertritt die typisch anglofone Haltung, dass Gräueltaten "aus der Vergangenheit" keine politische Bedeutung mehr haben. Hier kann man jedoch schwerlich von "Vergangenheit" sprechen, denn die Schule, in der sich der jüngste Gräberfund ereignete, wurde noch bis 1997 betrieben.

Die Geschichte wird, so sagt man, von den Gewinnern geschrieben. Und es ist wohl dem geopolitischen Triumph dieser Länder auf der Weltbühne geschuldet, dass solch dunkle Episoden an den Rand gedrängt werden. In internationalen Beziehungen unterscheiden sich die Länder nur in der Macht, mit der sie sich gegenseitig zur Rechenschaft ziehen können, und dementsprechend zahlen am Ende nur die Verlierer einen Preis.

Die Beteiligung aller fünf Länder am Sieg über den Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg steht im Mittelpunkt dieser Wandlung – von den größten kolonialen Ausbeutern zu den heroischsten Nationen dieser Welt. Die Niederlage Hitlers und das Übel des Holocaust ermöglichten es diesen Ländern, ein einfaches Narrativ zu etablieren, mit dem sie ihre Bevölkerungen davon überzeugen konnten, man gehöre zu den Kräften des Guten, dass man ein grenzenloses Recht habe, andere Länder zu überwachen, und dass die eigenen Verfehlungen in der Vergangenheit vergessen werden sollten. Man sieht diese Geisteshaltung deutlich im Umgang mit Ländern wie China. Kanada wirft Peking Völkermord vor, erkennt aber seinen eigenen Völkermord nicht an.

Die Dominanz der Anglosphäre erinnert daran, dass die internationale Justiz nicht einheitlich ist und auf zwei Ebenen existiert. Den größten und berüchtigtsten Menschenrechtsverletzer wurden in der Vergangenheit die Strafen für ihre Sünden oftmals erlassen, die gleichzeitig die Menschenrechte als Argument vorschieben, um ihre eigenen Ambitionen gegenüber anderen Ländern voranzutreiben, oft unaufrichtig oder durch Projektion der eigenen Sünden auf andere.

Wäre Kanada beispielsweise ein Land im Nahen Osten, würde es weltweit verurteilt und potenziell sanktioniert. Aber Kanada ist kein Land im Nahen Osten, es ist ein Land in der Anglosphäre. Kanada wird ein paar Worte der Reue äußern, aber sonst keine weiteren Konsequenzen zu erwarten haben.

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Übersetzt aus dem EnglischenTom Fowdy ist ein britischer Autor und Analytiker für Politik und internationale Beziehungen mit Schwerpunkt Ostasien.

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