Meinung

Zur völkerrechtlichen Bewertung des Ukraine-Krieges

Jetzt wegen der russischen Militäroperation das Völkerrecht heranzuziehen und dessen Verletzung anzuprangern, aber die acht Jahre davor zu übergehen, führt nicht zu einer Perspektive, die zu einer Lösung des Konflikts beitragen könnte. Diese kann es nur geben, wenn auch die Rechte der Menschen im Donbass respektiert werden.
Zur völkerrechtlichen Bewertung des Ukraine-KriegesQuelle: www.globallookpress.com © James Sprankle

von Tom J. Wellbrock

Eines der großen Defizite des westlichen politischen und vor allem medialen Systems ist der Umgang mit Informationen beziehungsweise vermeintlichen Informationen. Wenn erst einmal ein Narrativ in die Welt gesetzt und großflächig etabliert wurde, verankert es sich in den Köpfen und wird auch unter erheblichem Druck nicht wieder freigelassen.

So zum Beispiel bei der Behauptung, Russland führe einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Selbst bis in die hintersten Winkel deutscher Progressiver wird diese Unterstellung nicht hinterfragt, man hat sich eben drauf geeinigt. Ähnlich verhält es sich bei der angeblichen Annexion der Krim. Diese wie auch die Lage im Donbass und die Bedeutung der militärischen Operation Russlands, die am 24. Februar 2022 begann, kann – und muss – man jedoch auch in einem anderen völkerrechtlichen Zusammenhang sehen.

Das Recht auf Sezession

"Alle Menschen haben ein Recht auf Revolution, wenn sie unerträglicher Unterjochung unterworfen sind."Thomas Jefferson sagte diesen Satz im Jahr 1776. Abraham Lincoln wiederholte ihn 1861. Bezüglich der sich daraus ergebenden Konsequenzen waren sich Lincoln und Jefferson zwar nicht einig, doch die Unterjochung, von der hier die Rede ist, soll uns beschäftigen.

Die Tatsache, dass die Briten die EU verlassen konnten, hängt damit zusammen, dass die Europäische Union eine Sezession ausdrücklich vorsieht. Das im Jahr 2016 begonnene und 2020 vollendete Brexit-Votum Großbritanniens war also durch die Vertragsvereinbarungen der EU abgedeckt. Die sowjetische Verfassung (in Kraft getreten 1924, revidiert 1936) sieht dieses Recht auf Sezession ebenfalls vor.

Bei der Auflösung der Sowjetunion machten zahlreiche Staaten, die ehemals Teilstaaten der Sowjetunion waren, von diesem Sezessionsrecht Gebrauch, auch die Ukraine. Putin bedauerte das zwar, musste es jedoch hinnehmen, da er den Passus in der Verfassung natürlich kannte. Er betonte jedoch, dass die Ukraine nicht mehr Territorien mitnehmen dürfe, als sie bei der Aufnahme in die UdSSR eingebracht hatte. Damit war die Krim ein Teil Russlands.

Das Brexit-Votum kann zwar nicht mit der Abspaltung der Volksrepubliken verglichen werden, weil die Gründe für die Sezession unterschiedlich waren, doch im Kern sind sie sich durchaus ähnlich. Als im Jahr 2014 die neue ukrainische Regierung installiert wurde, geschah das im Widerspruch zur ukrainischen Verfassung, denn ihr gingen keine Wahlen voraus. Der Verfassungsbruch in Kiew hatte auch Auswirkungen auf den Donbass, denn er erlaubte den dort lebenden Menschen ebenfalls, sich von der (ohnehin bereits gebrochenen) Verfassung zu verabschieden und selbst zu wählen, wem sie künftig ihr politisches Vertrauen schenken wollen. Sie entschieden sich für Russland, und sie hatten wegen des zuvor erfolgten Verfassungsbruchs in Kiew auch das Recht dazu. Die Tatsache, dass der Regierungswechsel durch einen von außen initiierten Putsch der USA zustande kam, macht die Sache noch deutlicher.

In einem Referendum entschieden sich die Menschen in der Ost-Ukraine 2014 für die Zugehörigkeit zu Russland, wie es zuvor auch auf der Krim geschehen war. Doch Putin stimmte der Angliederung an Russland im Falle des Donbass nicht zu. Er setzte auf Minsk II, das die föderalen Rechte der Ost-Ukraine regeln sollte. Das ging bekanntlich schief, und so erkannte Putin die Volksrepubliken Anfang 2022 an.

Zwischen 2014 und 2022 waren die Bedürfnisse der Menschen im Osten der Ukraine ausgeblendet worden, was ein großer Fehler war, denn die Selbstbestimmung spielt auch im Völkerrecht eine wichtige Rolle. Doch ein anderer Aspekt wiegt schwerer: Zwischen den Menschen im Westen und dem Osten der Ukraine war das Tischtuch längst zerschnitten, man warf sich gegenseitig vor, auf der falschen Seite zu stehen. Ein gemeinsamer ukrainischer Weg war also schon wegen der langjährigen gegenseitigen Abneigungen zwischen Ost und West unrealistisch.

Kiews Prioritäten

Auch wenn die Maidan-Proteste von den USA initiiert und finanziert wurden, gab es aufrichtige Gründe für die Protestler, auf die Straße zu gehen. Sie forderten ein Ende der Korruption und die massive Einschränkung der Macht der Oligarchen. Kiew hatte aber andere Prioritäten und fokussierte sich auf die Zuwendung zu Europa und der NATO und auf den eigenen Russenhass. Damit war ein Interessenkonflikt in Stein gemeißelt, denn zur Lösung der Probleme, gegen die die Menschen auf die Straße gingen, trug Kiews Haltung nun wirklich nicht bei, im Gegenteil. Was folgte, war eine militärische Aufrüstung der Ukraine mit der Unterstützung des Westens, die zu einer weiteren Eskalation beitrug, aber nichts daran änderte, dass die Ukraine das Armenhaus Europas blieb und somit die Maidan-Proteste faktisch hinfällig wurden.

Russlands Reaktion

Nachdem Russland die Volksrepubliken kurz vor Kriegsbeginn im Februar 2022 anerkannt hatte, wäre – auch unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten – die militärische Hilfe legitim gewesen, also durchaus im Einklang mit dem Völkerrecht. Doch die Tatsache, dass Russland von einer Entnazifizierung und einer Entmilitarisierung sprach, macht dieses Argument in Teilen zunichte.

Denn das Recht auf nationale Selbstbestimmung gilt naturgemäß nicht nur für die Ost-Ukrainer, die Putin um Hilfe gebeten hatten. Es gilt auch für die im Westen lebenden Menschen, selbst wenn viele von ihnen nationalistisch und russenfeindlich sind. Putin erkannte das recht schnell und räumte zudem ein, zu lange gewartet zu haben, um die Menschen in den Volksrepubliken, die immerhin acht Jahre lang angegriffen und beschossen wurden, vor der Aggression aus dem Westen zu schützen.

Da Russland die Ukraine 1991 nach deren Referendum als unabhängigen Staat anerkannt hatte, hatte es kein Recht, zum Beispiel Kiew anzugreifen oder zu bedrohen. Es wäre klüger und im Sinne des Völkerrechts gewesen, hätte Russland sich auf die Ost-Ukraine beschränkt.

Man muss jedoch in diesem Zusammenhang auf die eigenwillige Priorisierung des Westens hinweisen. Dessen Kriege gegen den Irak (USA), gegen den Libanon (Israel), gegen den Jemen (Saudi-Arabien) und weitere Angriffe auf verschiedene Länder, an denen eigentlich immer die USA beteiligt oder als Initiator aktiv waren, wiegen so schwer, dass eine Differenzierung dringend notwendig wäre. Dass diese nicht stattfindet, hängt mit der Ausblendung der Geschichte durch den Westen zusammen, viel mehr aber noch mit der irrwitzigen Annahme, die Invasionen des Westens seien von "den Guten und aus den richtigen Gründen" durchgeführt worden. Selbstverständlich ist diese Unterstellung absurd und in höchstem Maße imperialistisch. Das ist im Übrigen kein "Whataboutism", sondern die Betrachtung des Ganzen als Gegenentwurf zu verkürzten und geschönten Behauptungen.

Die Folgen

Nimmt man das Völkerrecht als Grundlage der Überlegungen, hat Russland nicht komplett im Einklang mit diesem agiert. Doch es ist fatal, sämtliche sich daraus ergebende Konsequenzen daran festzumachen. Zum einen wäre das nur sinnvoll und notwendig, wenn man alle Kriege auf der Welt völkerrechtlich so streng beurteilen würde wie den aktuellen in der Ukraine. Zum anderen kann es nur zu einer Lösung kommen, wenn die Bedürfnisse der Menschen im Westen wie im Osten aktiv einbezogen und in ihrer Relevanz anerkannt werden.

Faktisch wird es zwischen dem Osten und dem Westen der Ukraine auf absehbare Zeit keine Lösung geben, die so etwas wie ein geeintes Land zur Folge hätte. Diese Option haben die politischen Führungen im Westen der Ukraine und im Westen Europas (einschließlich und maßgeblich mit US-amerikanischer Einflussnahme) schon 2014 verspielt, indem sie den Putsch initiiert und finanziert haben. Zudem ist der Graben zwischen Ost- und West-Ukraine auch in den Köpfen der Menschen so tief geworden, dass ein friedliches Miteinander ein schon fast infantiler Wunsch wäre.

Aufgrund der im Text beschriebenen Prämissen der Krim und der Volksrepubliken ist auch die Rückeroberung oder Verhandlung dieser beiden Regionen durch die West-Ukraine vollkommen unrealistisch, auch und ganz besonders im völkerrechtlichen Sinne.

Und wenngleich Europa und die USA aus Gründen des Profits und der NATO-Ausdehnung auf eine militärische Entscheidung setzen, ist diese mit der akuten Gefahr einer globalen Eskalation verbunden. Einen konventionellen militärischen Sieg über Russland wird es nicht geben, dazu ist das Land zu mächtig und militärisch zu stark.

Eine mögliche Lösung

Bei all den Diskussionen über die Ukraine kommen die Bedürfnisse der Menschen schlicht zu kurz. Erinnern wir uns daher an den oben kurz gestreiften Brexit. Wie gesagt, die Gründe für die Sezessionen sind nicht vergleichbar, die Konsequenzen könnten es aber sein. Schließlich ist Großbritannien heute ganz selbstverständlich ein Teil Europas, auch wenn es die Europäische Union verlassen hat. Bekanntermaßen lief der Brexit alles andere als harmonisch; es gab zahlreiche Konflikte und Streitigkeiten, die am Ende aber behoben wurden. Die Sezession Großbritanniens ist also – völlig losgelöst von anderen innen- und außenpolitischen Fragen – gelungen.

Eine vergleichbare Lösung wäre auch für die Volksrepubliken denkbar. Doch dafür müssten der Westen und Kiew an einer Lösung interessiert sein, und diesen Eindruck kann man selbst mit viel Wohlwollen nicht gewinnen. Eine dauerhafte Eskalation im militärischen und wirtschaftlichen Bereich, wie wir sie derzeit erleben, kann auf keine Einigung abzielen, sondern muss ausschließlich als aggressiver Akt der westlichen Staaten aufgefasst werden.

Man muss den Konflikt ganz nüchtern betrachten. Der Westen hat seit Jahren die Menschen in der Ukraine ignoriert, was sich auch an der wirtschaftlichen Verfassung des Landes ablesen lässt. Es gab keine wirksamen Hilfen, sondern eine durch Untätigkeit immer weiter anwachsende wirtschaftliche Schwäche des Landes. Das hatte in erster Linie verheerende Auswirkungen auf die Bevölkerung(en) der Ukraine.

Auch die Oligarchie und die Korruption der Ukraine wurden stillschweigend geduldet und ignoriert. Wäre der Westen an ernsthafter Hilfe für die Ukraine interessiert, hätte er sich auch dieses Themas angenommen.

Die Liste muss fortgesetzt werden mit der Nichtumsetzung von Minsk II, einem Abkommen, das gute Chancen gehabt hätte, zu einer Lösung im Sinne aller zu führen. Auch diese Chance wurde vertan.

Die rechtsextremen Kräfte in der Ukraine wurden geleugnet und verharmlost. Andrei Melnyk, ehemals ukrainischer Botschafter in Deutschland und bekennender Verehrer des Faschisten Stepan Bandera, trug aktiv und aggressiv zu einer seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht gekannten Form der Russophobie in Deutschland bei, was Lösungsansätze zusätzlich erschwerte.

Trotz steigender Attacken auf die Volksrepubliken kurz vor Kriegsbeginn im Februar 2022 tat der Westen nichts, um die daraus resultierende Gefahr einer weiteren Eskalation zu verhindern.

Nachdem Russland die Militäroperation in der Ukraine begonnen hatte, verlor die schon vorher nur noch rudimentär vorhandene Diplomatie weiter an Bedeutung, inzwischen muss man sie als ausgelöscht betrachten. Schon früh bekannte sich beispielsweise Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/ Die Grünen) zu dem Plan, Russland zu ruinieren – ein Zeichen von auf ganzer Linie fehlender Bereitschaft und Fähigkeit zur Diplomatie.

Die andauernden Sanktionen und Waffenlieferungen des Westens haben keines der formulierten Ziele erreicht, sie verschlimmern die Lage stattdessen erheblich, auch für die Menschen in Deutschland, die unter steigenden Preisen leiden und aller Voraussicht weiter werden leiden müssen.

Erst kürzlich sagte Baerbock, sie schließe in Deutschland aufgrund der extremen Teuerungsraten Volksaufstände nicht aus. In diesem Fall könne man der Ukraine nicht mehr helfen, weil man mit den Unruhen in Deutschland zu tun habe.

In den Köpfen der Politik des Westens scheint sich die Bereitschaft durchzusetzen, sogar gegen die eigenen Bevölkerungen mit Gewalt vorzugehen. Man könnte es – um es zynisch auszudrücken – auch als konsequent bezeichnen, denn etwas anderes als Eskalation scheint im Katalog der Optionen des Westens nicht vorzukommen.

Vom Völkerrecht wollen wir erst gar nicht reden.

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.