Meinung

Vitali Klitschko will Russen diskriminieren – mit EU-Einreisesperren

Ausgerechnet Vitali Klitschko, der Zögling der Konrad-Adenauer-Stiftung, will den Eisernen Vorhang wiederhaben. Der von CDU-Kreisen aufgebaute jetzige Bürgermeister von Kiew verlangt Einreisesperren für Russen, die dann – ginge es nach dem Ex-Profiboxer – nicht mehr in die EU einreisen dürfen.
Vitali Klitschko will Russen diskriminieren – mit EU-EinreisesperrenQuelle: Gettyimages.ru © Jakub Porzycki/NurPhoto via Getty Images

Von Mirko Lehmann

In der Europäischen Union (EU) nimmt eine Debatte um mögliche Visabeschränkungen für Staatsbürger der Russischen Föderation immer schrillere Töne an. Die als besonders russlandfeindlich geltenden baltischen Staaten spielen eine Vorreiterrolle in dem Wettbewerb, wer die schärfsten antirussischen Sanktionen auf den Weg bringt. Unterstützt werden sie dabei regelmäßig von skandinavischen Ländern und Staaten in Ostmitteleuropa – dem sogenannten "Neuen Europa". Zur Erinnerung: 2003 hatte der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld abfällig vom "Alten Europa", etwa Frankreich und Deutschland, gesprochen, das die US-Kriegspläne und den Überfall auf den Irak zumindest vordergründig ablehnte oder auch nur kritisierte. Das "Neue Europa" hingegen ist seit den späten neunziger Jahren – der ersten Runde der NATO-Osterweiterung – noch jedes Mal eifrig dabei, wenn es gilt, Vasallen-Treue zu Washington zu beweisen und in den nächsten Krieg zu ziehen. Und alle Kriege seit 1999, welche die NATO-Länder geführt haben und noch führen, waren mindestens indirekt auf die eine oder andere Weise auch antirussisch motiviert.

Nun unternehmen die wertewestlichen Neokonservativen aller Couleur einen weiteren Versuch, die Bewohner Russlands Mores zu lehren. Seit etlichen Tagen schwelt die Debatte um die künftige Visaverweigerung für russische Bürger. So hat Estland, wie dpa meldete, seine Visa-Regelungen für russische Staatsbürger verschärft. Eine einheitliche EU-Lösung sei bisher nicht in Sicht. Doch immer mehr Länder schränkten die Vergabe von Schengen-Visa an Russen im Alleingang ein. Dazu gehörten neben dem bereits erwähnten Estland auch Lettland, Litauen und Tschechien. Finnland wolle ab September folgen. Und Polen erwäge eine ähnliche Regelung. Dänemark dringe auf eine EU-Lösung – und wolle sonst ebenfalls selbst handeln. Bisher hatte sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ablehnend zu Vorschlägen für schärfere Visa-Regeln geäußert.

Springer will die Mauer wieder haben

Nun versucht hierzulande das Springerblatt Bild, diesen quasi touristischen Teil der allgemein westlichen antirussischen Debatte anzuheizen, und zwar per Interview mit dem CDU-geförderten Bürgermeister der ukrainischen Hauptstadt Kiew Vitali Klitschko. Der 51-jährige Ex-Profiboxer pocht darin auf Einreisesperren für Russen, und Bild titelt ultimativ:

"Eiserner Vorhang muss wiederkommen!"

Bezeichnenderweise eröffnet die Boulevardzeitung das Interview dann mit einer Art Schuldeingeständnis, um möglichem Widerspruch vorab den Wind aus den Segeln zu nehmen. Denn Klitschkos Forderung erinnere zwar "an vergangene dunkle Zeiten", um dann – etwas zu naiv für ein seit seiner Gründung antisowjetisches, nunmehr antirussisches Blatt – verbal die Hände überm Kopf zusammenzuschlagen und in gespielter Bestürzung auszurufen, "wie dramatisch die Lage zwischen Russland und dem Westen mittlerweile" sei Genau solch eine zugespitzte Lage hat man bei Springer selbst nach Kräften mit herbeigeschrieben.

Und so geht es dann in moralisierendem Ton weiter. Denn das Herz des Boxers wolle "nicht länger ertragen, dass Russen in Europa Strandurlaub genießen – während russische Soldaten in der Ukraine töten". Daher fordert er:

"Der Eiserne Vorhang muss wiederkommen. Russland zeigt jeden Tag, dass dieses Land eine Diktatur ist – und über 70 Prozent der Russen unterstützen Putin."

Doch Bild beruhigt und ergänzt sogleich, "[g]emeint" seien damit "keine Mauer, sondern Einreisesperren für Russen, die bei uns ihren Urlaub genießen, während ihr Land einen blutigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt".

Affront nicht nur gegen russische Touristen, sondern gegen alles Russische

Nun stellt sich eigentlich die Frage, wie viele Bürger der Russischen Föderation überhaupt noch in den russophob gestimmten Westen kommen, um hier ihr Geld auszugeben. Vermutlich nur eine Minderzahl von Russen, die sich es leisten können – und, weil diese häufig selbst ähnlich "liberale Werte" teilen und so ähnlich ticken wie westliche Politik und Medien. Doch die wollen Bild und Klitschko mit ihren Visa-Boykott-Forderungen nun offenkundig gern erst vergraulen und sodann gegen Putin aufstacheln. Eine zweite Frage wäre, ob nicht die ohnehin gebeutelte westliche Tourismusbranche insgeheim ganz dankbar wäre, wenigstens ein paar zahlungskräftige russische Gäste begrüßen zu können …

Wie dem auch immer sei, gegenüber Bild habe Klitschko darauf verwiesen, "dass die große Mehrheit der Russen, die gerade in den Sommermonaten nach Europa kommen, europäische Werte ablehnen". Solch ein Kronzeuge wie der Sportwissenschaftler Dr. Klitschko muss das ja wissen. Und so habe dieser auch empört gefragt:

"Wie kann es dann sein, dass sie [die russischen Touristen in Europa; Anm. d. Red.] gleichzeitig das europäische System genießen?"

Die Deutsche Presse-Agentur fasste Klitschkos Forderungen folgendermaßen zusammen:

"Ukrainer sterben und Russen genießen das Leben in Europa […] Es muss Sanktionen geben, Einreisesperren, damit das nicht mehr möglich ist."

Aufgewärmte Legenden

Natürlich darf auch nicht die Mär von der gescheiterten oder vereitelten russischen Eroberung der Hauptstadt Kiew fehlen. Angeblich standen die russischen Truppen beinahe auf dem Kreschtschatik und damit vor Klitschkos Amtssitz …

"Der schlimmste Moment war für mich, dass russische Soldaten es fast ins Zentrum von Kiew geschafft hätten damals. Die Explosionen jeden Tag, die Einschläge, die Stadt war komplett leer. Wir hatten uns auf Straßenkämpfe eingestellt."

Klitschkos Lamento über angeblich ausbleibende westliche Waffenlieferungen an die Ukraine darf man, auch angesichts der sich häufenden Berichte über den ukrainischen Waffenschmuggel, auch unter Beteiligung oder zumindest mit Wissen Kiews, beinahe als Folklore abtun:

"Ich bin sehr enttäuscht. Ohne mehr Waffen können wir die Russen nicht stoppen. Wir bekommen Waffen – aber nicht genug. Genug ist es erst, wenn der letzte russische Soldat die Ukraine verlassen hat."

Es folgte dann die übliche propagandistische Begründung: Die Ukraine würde "jeden Einzelnen in Europa" verteidigen, wie Klitschko nicht ganz ohne Selbstüberhöhung der Ukraine behauptete.

Selbstgerechtigkeit ohne Realitätsbezug

In ihrer Verzweiflung über den de facto bereits verlorenen Krieg in der Ukraine greifen westliche, eben auch deutsche Politiker und ihnen angeschlossene Medien zu immer absurderen Moralisierungen, um das Blatt möglichst noch zu wenden.

Erstens: Bürgerliche Politiker und Springerpresse, die vor 1989 bei jeder Gelegenheit die deutsche Teilung und die Teilung Europas wortreich angeprangert und auf die Tränendrüse gedrückt hatten, verlangen jetzt, wo es in die transatlantische Agenda passt, einen neuen Eisernen Vorhang, auch wenn sie sogleich beteuern, keine neue "Mauer" errichten zu wollen. Faktisch läuft es aber genau darauf hinaus. Und wie im Kalten Krieg nach 1945 wird der neue Eiserne Vorhang wieder von westlicher Seite zuerst heruntergelassen.

Zweitens: Im Gestus der moralischen Überlegenheit – wir Deutschen hätten ja die Lektionen aus unserer Vergangenheit gelernt – fordern insbesondere konservative deutsche Politiker, zu denen seit 1999 auch die NATO-Olivgrünen gehören, dass man eben auch ein Signal an "die Russen" senden müsse. Es sei nicht mehr nur "Putins Krieg". Die hohen Zustimmungswerte zur Moskauer Politik – welche Meinungsumfragen selbst prowestlicher Institute für die Moskauer Führung dokumentieren und von denen, nebenbei bemerkt, westliche Regierungschefs nicht einmal zu träumen wagen – würden zeigen, dass eben das ganze "russische Volk" erzogen, ja bestraft gehöre. Offizielle deutsche Politik und Medien bedienen sich zur Legitimation dieser Agenda eines pervertierten Geschichtsbildes und Pseudo-Antifaschismus sowie selbsterschaffener, installierter und geführter Sprechpuppen in der Ukraine.

In der verqueren, demagogischen Logik dieser transatlantischen "Schwarzen Pädagogik" muss nun "der Russe" leiden, solange er nicht davon ablässt, die Moskauer Politik im Großen und Ganzen für richtig zu halten. Wohin bornierte Selbstüberschätzung, Realitätsverlust und ideologischer Wahn führen, könnte man eben aus der deutschen Geschichte gelernt haben. Um Günter Gaus abzuwandeln: Die selbstzerstörerische Hybris hat in Deutschland ihr volles Maß noch nicht erreicht.

Mehr zum Thema - Die Saat der gegenwärtigen politischen Spaltung in der Ukraine wurde vor 30 Jahren gesät

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.