Meinung

Die völkerrechtliche Bewertung des Ukraine-Kriegs: Zum Streit innerhalb der Friedensbewegung

In der deutschen Friedensbewegung wird kontrovers über die Rechtmäßigkeit der russischen Militäroperation in der Ukraine diskutiert. Das drängt die Debatte über die tatsächlichen Kriegsursachen in den Hintergrund und schwächt die Bewegung, findet unser Autor.
Die völkerrechtliche Bewertung des Ukraine-Kriegs: Zum Streit innerhalb der FriedensbewegungQuelle: AFP © Sameer Al-DOUMY

Am 18.12.2022 veröffentlichte RT DE unter dem Titel "Reflexionen über Positionen und Strategien der deutschen Friedensbewegung" ein Interview mit Klaus Hartmann, dem Präsidenten der Weltunion der Freidenker. Darin kritisierte Hartmann Teile der Friedensbewegung für ihre "Verurteilung des vermeintlich 'völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges'". Wir veröffentlichen an dieser Stelle eine Erwiderung von Joachim Guilliard, einem der Organisatoren des Friedensratschlags in Kassel.

Von Joachim Guilliard

Wenn Klaus Hartmann in diesem Interview auch nach den Diskussionen auf dem Friedensratschlag in Kassel nochmal seine Schelte wiederholt, die er bereits im November vorbrachte, fragt man sich, was ihn als führenden Freidenker umtreiben könnte, sich ausgerechnet auf den Teil der Friedensbewegung und Linken einzuschießen, der sich am entschiedensten gegen den herrschenden Kriegskurs und seine Rechtfertigungen stellt? Nur weil diese Aktive nicht überzeugt sind, dass der russische Einmarsch im Nachbarland vom Völkerrecht gedeckt ist, wirft er ihnen vor, sich "letztlich folgsam hinter den NATO-Lautsprechern" einzureihen.

Den gleichen Vorwurf müsste er dann aber auch den meisten nicht-westlichen Regierungen machen, von Südafrika bis Kuba, obwohl sie den Konfrontationskurs gegen Russland nicht mitmachen. In der Stellungnahme der kubanischen Regierung vom 26.2.2022 heißt es z. B., es sei von Seiten Russlands "zur Anwendung von Gewalt und zur Nichtbeachtung von Rechtsgrundsätzen und internationalen Normen gekommen, zu denen sich Kuba bekennt und die es mit Nachdruck unterstützt und die insbesondere für kleine Länder eine wesentliche Referenz gegen Hegemonismus, Machtmissbrauch und Ungerechtigkeit darstellen".

Verständlicherweise sind Länder wie Kuba hier sehr wachsam. Die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der Donbass-Republiken bis hin zum Recht ihrer Sezession ist das eine. Doch daraus abzuleiten, dass drei Tage nach der Anerkennung ihrer Unabhängigkeit durch einen einzigen Staat, dieser dann auch mit Berufung auf das Recht auf kollektive Selbstverteidigung völkerrechtlich legitimiert ist, in das Land einzumarschieren von dem sie sich abspalteten, geht offensichtlich den meisten zu weit ‒ bei allem Verständnis für die russischen Motive. Könnte die Anerkennung eines solchen Rechts Destabilisierungsmaßnahmen der imperialistischen Staaten Tür und Tor öffnen. Sie müssten in gegnerischen Staaten nur eine Enklave finden, zum Beispiel am Rande von Xinjiang, in der sie eine genügend starke Truppe einer Minderheit (z. B. uigurische Islamisten) bündeln können, die dort die Unabhängigkeit erklärt und dann ein Schutzbündnis mit den USA eingeht.

Völkerrecht ist bekanntlich ein schwieriges und stets umstrittenes Terrain. Wenn Klaus Hartmann und andere zur Ansicht kommen, ein solcher präventiver Angriff könne völkerrechtkonform sein, so kann man darüber diskutieren. Es ist aber, angesichts der schwierigen Debatten in der Linken und der Friedensbewegung, unsinnig und kontraproduktiv dies zur Gretchenfrage zu machen. Denn eines sollte doch jedem klar sein: Wenn es um etwas im westlichen Stellvertreter und Wirtschaftskrieg gegen Russland mit Sicherheit nicht geht, dann ist es das Völkerrecht. Selbst wenn die Rechtmäßigkeit mehrheitlich anerkannt würde, würde das an der westlichen Politik nichts ändern.

Die Frage ist auch für die Bewertung des Krieges nicht so bedeutend, schließlich gingen dem russischen Angriff mehrere eklatante Verstöße gegen internationales Recht und verbindliche Abkommen voraus, vom Vorrücken von NATO-Truppen an die russischen Grenzen, über den Regime Change 2014 bis zum Verstoß gegen die Minsker Abkommen. Und die NATO-Staaten sind angesichts ihrer eigenen, wesentlich verheerenderen völkerrechtswidrigen Kriege, die letzten, die für ihre Reaktion das Völkerrecht ins Feld führen können. Ein Verweis auf den Kosovo reicht, um zu zeigen, wie selektiv sie, allein ihre Interessen verfolgend, mit dem Selbstbestimmungsrecht von Volksgruppen und der Wahrung der territorialen Integrität anderer Länder umgehen.

Wen wir dem westlichen Kriegskurs etwas entgegensetzen wollen, müssen wir daher in erster Linie auf die tatsächlichen Kriegsursachen hinweisen, darauf, dass die USA und NATO hauptsächlich für die Eskalation verantwortlich sind, müssen wir uns folgerichtig gegen die Politik des eigenen Landes und seiner Verbündeten, gegen deren Stellvertreter- und Wirtschaftskrieg engagieren.

Das macht im Wesentlichen eine "authentische Friedensposition" aus und hat leider in der Linken und in der Friedensbewegung einen schweren Stand. Dass hier die zentralen Bruchlinien liegen, geht in Klaus Hartmanns ärgerlichen und irreführenden Ausführungen unter, da er die bloße abweichende Einschätzung bzgl. Völkerrecht mit den in der Tat teils recht regierungsnahen Positionen anderer Gruppen bis zu den Gewerkschaften in einen Topf wirft und mit den folgenden ausführlichen Erläuterungen zu den Kriegsursachen den Eindruck erweckt, diese würden von allen, außer den wenigen Erleuchteten in seinem Umfeld ignoriert. Dabei konnte er sie auf dem Friedensratschlag in Kassel hören und im Positionspapier des Bundesausschuss Friedensratschlag "Hintergründe und Lösungsperspektiven des Ukraine-Krieges" noch ausführlicher lesen.

Es sind bekanntlich schwierige Zeiten für alle, die sich öffentlich gegen die westliche Kriegs- und Blockadepolitik stellen. Es wäre daher sicher sinnvoller, den Teil der Bewegung zu stärken, der mit seiner "authentische Friedensposition" seinem Standpunkt recht nahe liegt, als sich mit rechthaberischen Polemiken ins Abseits zu stellen.

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