Meinung

Sieg und Niederlage: Was versteht der Westen und was versteht Russland darunter?

In einer Artikelreihe befasst sich Tatjana Montjan mit den Aussichten, wie es in dem Konflikt des "kollektiven Westens" mit Russland und insbesondere auf einem seiner Schauplätze ‒ in der Ukraine ‒ weitergehen wird. Im ersten Artikel der Reihe versucht sie zu definieren, was Sieg und Niederlage aus Sicht der Kriegsparteien sind.
Sieg und Niederlage: Was versteht der Westen und was versteht Russland darunter?Quelle: Sputnik © Sergei Awerin / RIA Nowosti

Von Tatjana Montjan

In letzter Zeit wurde viel darüber spekuliert, wie viele Menschen an einen Sieg der Ukraine über Russland glauben. Doch was würde überhaupt als Sieg und was als Niederlage zählen?

In der westlichen Propaganda wird jeder Ausgang des Krieges, bei dem zumindest ein Teil der Ukraine unter der Kontrolle von Selenskij bleibt (oder von demjenigen, den Washington bis dahin in die Rolle des Führers des ukrainischen Speckreiches eingesetzt haben wird), als Sieg für die Ukraine und als Niederlage für Russland angesehen. Denn nach deren Narrativ besteht das russische Ziel in diesem Krieg darin, die ukrainische Staatlichkeit zu zerstören.

Aus russischer Sicht sind die Dinge interessanter. Da die Ziele der Sonderoperation gar nicht oder nur so vage benannt werden, dass darunter alles Mögliche zu verstehen ist, kann in Russland nahezu jedes Ergebnis als Zielerreichung bezeichnet werden. Wer weiß schon, was genau mit Entnazifizierung gemeint war? Und wie kann man beweisen, dass die Gebiete Neurussland und Krim, die erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts russisch wurden, historisch russisch sind, Galitsch und Wladimir-Wolynsk, die im 10. Jahrhundert russisch waren, dagegen nicht so "historisch russisch" sind, dass sie "in ihren Heimathafen" zurückkehren dürfen. Nur der Rückzug aus Teilen des Donbass und der Krim würde da als klare Niederlage gelten. Und selbst dann würde es ein Wladimir Solowjow (ein bekannter Talkshow-Host im russischen Fernsehen ‒ d.Red.) sicherlich schaffen, sein Publikum davon zu überzeugen, dass dort etwas mit der Genetik und im Allgemeinen nicht stimmt. Wer sind wir schon, um über subtil-geniale Pläne der großen Staatsführer zu urteilen? 

Bleibt die faktische Grenzziehung so oder nahezu so, wie sie derzeit ist, haben bei ehrlicher Betrachtung sowohl Russland als auch die Ukraine eine Niederlage erlitten. Selbst dann, wenn die Frontlinie näher an die in der russischen Verfassung festgelegten Grenzen heranrückt. Die Ukraine hat ihre große Niederlage bereits 2014 erlitten: Auch bei einem günstigen Ausgang liegt das Land bereits in Trümmern, die Wirtschaft ist am Boden, es gibt enorme menschliche und demografische Verluste und praktisch keine Chance auf eine menschenwürdige Zukunft. 

Das Ansehen Russlands wird dann einen schweren Schaden genommen haben. Diese Ebene sollte nicht unterschätzt werden: Vieles in der Weltpolitik basierte bislang auf der Angst, dass der russische Bär einmal aufwachen und es allen, die ihn piesacken, zeigen würde. Eine De-facto-Niederlage gegen das Speckreich, eine Marionette des kollektiven Westens, wird diese Befürchtungen endgültig zerstreuen. Dann wird manches aus den Fugen geraten und die Haltung einer Reihe von Ländern gegenüber dem neuen Russland wird sich in einer Weise verändern, die Letzteres kaum erfreuen kann. Die Lage der russischen Wirtschaft wird nicht super sein, aber immerhin mehr oder weniger erquicklich. Auf der Haben-Seite wird nichts Herausragendes stehen, zumindest gemäß den Erklärungen hoher Beamter zu urteilen, wonach außer der "Befreiung der verfassungsmäßigen Gebiete der Russischen Föderation" nichts weiter geplant ist und auch Selenskij offenbar nicht entmachtet werden soll. Dabei müssen die in der Verfassung der Russischen Föderation verankerten Grenzen erst noch erreicht werden.

Wer am Ende in allen Szenarien, mit Ausnahme des vollständigen Verschwindens des ukrainischen Speckreiches, gewonnen hat, sind die USA. Sie haben endlich einen ihrer strategischen Feinde zu einer weltweiten Vogelscheuche gemacht und die europäischen Vasallen, die anfingen, kapriziös zu werden, gegen ihn vereinigt. Das Image des Weltpolizisten, das nach Afghanistan angekratzt war, wurde verstärkt. Washington machte erfolgreich Werbung für seine Waffen und sicherte sich Aufträge für die nächsten zehn Jahre. Außerdem leerten sich die unerschöpflich scheinenden Arsenale sowjetischer Waffen, die einst gegen Amerika gerichtet waren. Alles in allem nur Pluspunkte.

Lediglich die vollständige Liquidierung der ukrainischen Marionette würde dem Weltgendarmen einen schweren Imageschaden zufügen und zeigen, dass der Hegemon genauso senil ist wie sein Präsident Joe Alzheimer.

Übersetzt aus dem Russischen.

Tatjana Montjan ist eine prominente ukrainische Rechtsanwältin und Strafverteidigerin, Publizistin und Bloggerin mit Millionenpublikum. 2004 noch auf der Seite des ersten Maidans, bezeichnete sie den Euro-Maidan im Herbst 2013 als Zerstörung der ukrainischen Staatlichkeit und stellte sich entschieden gegen diesen. Vor Beginn der russischen militärischen Intervention musste sie Kiew verlassen, nachdem sie vor der UNO über die Zustände in der Ukraine gesprochen hatte. Derzeit lebt sie im Donbass, engagiert sich für humanitäre Hilfe und führt tägliche Videoblogs. Man kann ihr auf ihrem Telegram-Kanal folgen. Ihr Kanal auf Youtube wurde im Frühjahr 2022 durch das US-Unternehmen gelöscht. 

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