Meinung

Ab 2014 Bürgerkrieg in der Ukraine? Nein, es war ein Vernichtungskrieg gegen den Donbass

Bei dem Wort Bürgerkrieg hat man bestimmte Bilder im Kopf; jedoch kaum Kampfflugzeuge, Hubschrauber und Panzer. Eher von Straßenkämpfen. Der Bürgerkrieg, der ab 2014 in der Ukraine herrschte, war allerdings eine andere Art Bürgerkrieg.
Ab 2014 Bürgerkrieg in der Ukraine? Nein, es war ein Vernichtungskrieg gegen den DonbassQuelle: www.globallookpress.com © imago stock&people

Von Dagmar Henn

Dass der Krieg in der Ukraine nicht im vergangenen Jahr begonnen hat, sondern schon bald neun Jahre alt ist, dürfte den meisten Lesern dieser Seite bekannt sein. Aber selbst die Bezeichnung als ukrainischer Bürgerkrieg vermittelt noch einen falschen Eindruck. Denn auf der Skala der Bürgerkriege ist der Krieg, den die Kiewer Regierung gegen den Donbass führte, ungewöhnlich massiv. Wenn man ein Muster zum Vergleich sucht, entspricht das eher einem Krieg zwischen verschiedenen Völkern. Wie beim Zerfall Jugoslawiens.

Die deutlichste Methode, um sichtbar zu machen, wie ungewöhnlich diese Entwicklung war, ist, sich vorzustellen, die Regierung Janukowitsch hätte in der gleichen Weise reagiert. Denn vor dem Maidanputsch gab es entsprechende Ereignisse in der Westukraine. Polizeistationen wurden gestürmt und die Waffenarsenale beschlagnahmt; Verwaltungsgebäude wurden besetzt und mit Barrikaden versehen. Wie hätte der Westen reagiert, hätte Janukowitsch als Reaktion nicht die Polizei, sondern das Militär losgeschickt und die Orte belagert und beschossen, in denen das geschehen war? Welch ein Aufschrei wäre durch die Medien gegangen, hätten Flugzeuge Raketen gegen diese Gebäude abgefeuert, wie das am 2. Juni 2014 in Lugansk der Fall war!

Wenn man zum Vergleich den nordirischen Bürgerkrieg betrachtet, war dieser sehr begrenzt. Ein Krieg, der sich weitgehend auf IEDs, also selbstgebaute Sprengkörper, und Infanterie begrenzte. Nach der ukrainischen Skala hätte die britische Armee Wohnviertel aus der Luft bombardieren oder mit Artillerie beschießen müssen – was sie rein technisch gesehen auch hätte tun können. Aber die politische Sicht war eben eine Sicht auf eigene Bürger.

Weil im Westen die Darstellung eines friedlichen Protests gepflegt wurde, wurde über die Besetzungen und die Bewaffnung in der Westukraine nie berichtet. Das half, Anfang April die Besetzungen in Donezk und Lugansk als besonders extreme Handlungen darzustellen, obwohl der gesamte Ablauf, bis hin zu über die sozialen Medien verbreiteten Aufrufen, Material zum Barrikadenbau an diese oder jene Stelle zu bringen, genau dem zuvor in der Westukraine angewandten Muster entsprach. Bis hin zum Modell der Barrikaden: Stapel von Altreifen, mit Stahlstangen verstärkt und bereit, bei Bedarf mit Molotow-Cocktails in Brand gesetzt zu werden. Selbst die Internet-Videos, die die Zubereitung unterschiedlicher Varianten von Molotow-Cocktails zeigten, wurden schlicht von den westukrainischen Konten kopiert...

Während aber die Regierung Janukowitsch auf diese Handlungen in der Westukraine nicht reagierte, also in keinem einzigen Fall ein solches Gebäude auch nur mit Polizeigewalt erstürmte und die mitnichten friedlichen Maidan-Proteste gewähren ließ, reagierte die Putschregierung, die am 22. Februar 2014 die Macht übernahm, völlig anders. In Charkow, wo wie in Donezk die Bezirksverwaltung besetzt worden war, wurde gleich in der ersten Nacht gestürmt, noch einigermaßen glimpflich für die Besetzer. In Mariupol wurde ebenfalls gestürmt; wie der genaue Ablauf war, ist bis heute nicht bekannt, die damaligen Besetzer verschwanden spurlos.

Ein Sturm in Donezk und Lugansk war schwierig, weil in den ersten Wochen Tag für Tag und Nacht für Nacht die Plätze vor den beiden zentralen Gebäuden von Tausenden von Menschen umlagert waren. Aber die Kiewer Putschisten gaben bereits die Linie vor und sprachen von Separatisten, Terroristen und einer Anti-Terror-Operation – eine Darstellung, die in der westlichen Presse sofort übernommen wurde. Wer die Livestreams verfolgte, konnte sehen, dass es hier um Massenbewegungen ging, dass die örtliche Bevölkerung dahinter stand. Sowohl in Donezk als auch in Lugansk gab es Webcams, mit denen man das Umfeld beobachten und die Demonstranten sehen konnte, die "ihre" Besetzungen nachts bewachten.

Schon im April, also vor den Wahlen Ende Mai, wurden Armee-Einheiten in Richtung Südostukraine verlegt. Aus dieser Zeit gibt es Videos, die zeigen, wie sich unbewaffnete Menschen vor die Panzer stellen. Es gab in dieser Zeit auch den einen oder anderen Überläufer.

Dann kam der 2. Mai in Odessa, und eine Woche später das weniger bekannte Massaker am 9. Mai in Mariupol, bei dem die inzwischen zur Nationalgarde ernannten Nazimilizen in die Stadt einrückten und in die Menge schossen. Von beiden Ereignissen fand für das deutsche Publikum nur das letztere statt, falls sie zufällig an jenem Tag die RTL-Nachrichten sahen; ein einzelner Reporter war vor Ort, hatte den Überfall gefilmt und ihn so berichtet, wie er stattgefunden hatte. Die Aufnahmen von diesem Tag tauchten aber hinterher nie wieder auf, und die Information wurde nirgends aufgegriffen.

Zu diesem Zeitpunkt war Bewaffnung im Südosten noch die absolute Ausnahme. In Odessa wie in Mariupol wurden Unbewaffnete ermordet. Die Angreifer in Mariupol rückten bereits mit Panzern an. Der Überfall in Mariupol sollte nicht nur die Feiern zum Tag des Sieges verhindern, sondern auch von der Teilnahme am für den 11. Mai angesetzten Referendum abhalten. Ein Referendum, dessen Frage schlicht lautete: "Unterstützen Sie die staatliche Selbständigkeit der Donezker/Lugansker Volksrepublik?"

Die westliche Berichterstattung spricht den Referenden die Legitimität ab, unter anderem mit der Begründung, es seien in zu wenigen Orten Wahllokale geöffnet gewesen. Gleichzeitig hätten sie gegen die ukrainische Verfassung verstoßen; ein schwieriges Argument, da die Ukraine zu diesem Zeitpunkt keine verfassungsgemäße Regierung hatte. Was aber völlig übergangen wurde, ist der Terror, der im Vorlauf zu den Referenden gegen die Organisatoren ausgeübt wurde. Es kam zu mehreren Morden und zahlreichen Verschleppungen, insbesondere durch den Rechten Sektor und vergleichbare Einheiten. Der Terror setzte sich bis zum Tag des Referendums selbst fort, als Wahllokale von Bewaffneten überfallen wurden. Eine Aufnahme von einem dieser Überfälle servierte das ZDF damals seinen Zuschauern als einen Überfall der "Separatisten". Bei nüchterner Betrachtung dieser Umstände muss man sagen, dass bereits die erfolgreiche Durchführung der Referenden ohne die breite Unterstützung der Bevölkerung nicht gelungen wäre.

Wenige Tage nach den Referenden schrieb ein Autor der Bundeszentrale für politische Bildung noch:

"Weder zahlreiche Haftbefehle gegen Separatisten noch ein bereits einen Monat andauernder 'Anti-Terror-Einsatz' in der Region haben verhindern können, dass an vielen zentralen Orten öffentlich und ungehindert das von Kiew als illegal betrachtete Referendum durchgeführt werden konnte."

Und weiter kommt er zu dem Schluss:

"Die offizielle Position, dass die Referenden illegal waren und die Regionen unter die Kontrolle der Zentralregierung gehören, ist selbst im Rahmen eines Militäreinsatzes nicht durchsetzbar."

Das, was dann tatsächlich folgen sollte, konnte er sich nicht vorstellen:

"Längerfristig besteht das Risiko einer dauerhaften Unabhängigkeitsbewegung mit terroristischer Unterstützung, die ähnlich wie im spanischen Baskenland oder in Nordirland das politische Klima in der Ukraine dauerhaft belasten würde."

Es wurde nicht das Baskenland oder Nordirland – außer man denkt an das Baskenland 1936 und die Bombardierung von Gernika. Am 25. Mai wurden in Donezk erstmals Kampfflugzeuge eingesetzt, ab da ging es Schlag auf Schlag. Flugzeuge, Hubschrauber und vor allem schwere Artillerie kamen zum Einsatz, gegen die Bevölkerung. Slawjansk wurde mit Grad-Raketen beschossen. Im Sommer 2014 wurde das gesamte ukrainische Arsenal zum Einsatz gebracht, einschließlich der Totschka-U-Raketen, über sechs Meter lang, zwei Tonnen schwer, mit einem Sprengkopf von einer halben Tonne Gewicht. Das Ziel war die Bevölkerung des Donbass.

Wie man aus den oben zitierten Zeilen entnehmen kann, war ein Krieg mit schwerster Bewaffnung vermutlich nicht das, was westliche Beobachter erwartet hätten. Beschuss aus Raketenwerfern ist kein Bestandteil einer politischen Charmeoffensive. Er hat nichts mehr mit irgendeinem Versuch zu tun, Menschen zu überzeugen, wie man es innerhalb eines demokratischen Staates erwarten sollte. In der Regel erfolgt der Einsatz derartiger Bewaffnung dann, wenn zwei staatliche oder doch zumindest parastaatliche Gegner aufeinanderprallen. In Jugoslawien zerfiel die Armee selbst in mehrere Teile, die dann gegeneinander standen. Im libanesischen Bürgerkrieg waren es zuvor teils seit Jahrzehnten bestehende Milizen. In den Bürgerkriegen Lateinamerikas waren Panzerfahrzeuge die Ausnahme.

Ein Bürgerkrieg, bei dem die Regierung ihre eigene Bevölkerung aus der Luft bombardiert und mit schwerer Artillerie unter Beschuss nimmt, ist ungewöhnlich. Denn im Regelfall ist ein Bürgerkrieg ein Kampf um die Menschen, nicht um das Gebiet. Nichts zeigt deutlicher, dass eine Regierung an den Bewohnern kein Interesse hat, als wenn sie sie auf diese Weise attackiert, Menschen, deren Wohl eigentlich ihr Auftrag wäre.

Dem westlichen Publikum wurden all diese Bilder vorenthalten. Die zerschossenen Autos auf der Straße zum Flughafen Donezk Ende Mai, die zerfetzten Opfer vor der Bezirksverwaltung Lugansk am 2. Juni, die in Stücke geschossenen Häuser in Slawjansk, Raketen, die in Dächern stecken und in Wohnzimmer ragen, die Häuserfronten mit leeren Fensterrahmen, die unzähligen Opfer, in Parks, vor Supermärkten, auf Spielplätzen... Besetzte Busse, die aus der Ferne mit Artillerie zerrissen werden. Aus Entfernungen von zwanzig, vierzig, siebzig, bei der Totschka-U bis zu hundertzwanzig Kilometern – blind in Städte gefeuert, deren Bewohner allesamt zu Feinden erklärt wurden.

Wie hätte man in Deutschland, in Frankreich reagiert, wären all diese Schrecken ordnungsgemäß berichtet worden? Hätte man immer noch entspannt die Sprachregel der "antiterroristischen Operation" aufrechterhalten und bedenkenlos Poroschenko zitieren können, als dieser Ende Mai 2014 erklärte, für jeden toten ukrainischen Soldaten müssten hunderte "Separatisten" ihr Leben lassen? Oder wäre, vor dem Hintergrund der unermüdlichen Angriffe auf die Wohngebiete, doch noch die Verwandtschaft zum Partisanenbefehl der Naziwehrmacht aufgefallen?

Das Verhalten der ukrainischen Armee im Donbass entsprach nicht dem einer Armee im Bürgerkrieg, sondern vielmehr dem einer feindlichen Besatzungsmacht. Etwa der Entwicklung des Vietnamkriegs ab dem Eingreifen der USA. Nordirland und selbst das Baskenland in den Jahren nach 1976 waren eine völlig andere Art von Krieg, die sich weitgehend, wenn auch nicht absolut, auf jene Teile der Bevölkerung beschränkte, die tatsächlich als Kombattanten angesehen werden konnten. Das, was seit 2014 von ukrainischer Seite im Donbass geschah, war genau das, was die deutschen Medien heute fälschlicherweise der russischen Armee unterstellen: ein Vernichtungskrieg. Dieses Wort bezeichnet nämlich eine Kriegsführung, die sich einzig auf die Eroberung des Gebietes richtet, die Bevölkerung dort aber für verzichtbar hält.

Ist diese Art der Kriegsführung mit einem demokratischen Land vereinbar? Frankreich hat auf diese Art in Algerien Krieg geführt. Auch dabei wurde zwar der Boden als französisch betrachtet, die Algerier aber nicht wirklich als Franzosen. Spanien in Marokko, die Briten im Nahen Osten – mit Ausnahme des Zweiten Weltkriegs (und des spanischen Bürgerkriegs, der aber von Faschisten geführt wurde und bereits Vorspiel des Zweiten Weltkriegs war) findet sich eine solche Methodik nur in Kolonialkriegen. Einzig die Bombardierung von Gernika und Madrid liefert ein Vorbild aus einem europäischen Bürgerkrieg für das Vorgehen der ukrainischen Armee gegen den Donbass. Sobald diese Handlungen bekannt sind, braucht man über die Ideologie dieses Staates nicht mehr zu diskutieren. Denn kein Symbol, keine Aussage macht sie kenntlicher.

Wenn man heute über die aktuellen Ereignisse in der Ukraine diskutiert, wissen schon nur die wenigsten, dass es diese acht Jahre gab. Aber jede Benennung der Kämpfe ab 2014 wird als Bürgerkrieg verharmlost, weil man eben nicht an Gernika und Madrid, an Algier oder Bagdad denkt, sondern an Nordirland. Um die Dynamik der ukrainischen Katastrophe zu begreifen, muss man erkennen, dass das in der Ukraine ein Bürgerkrieg war, der als Vernichtungskrieg geführt wurde.

Mehr zum Thema - Podoljakas Wochenrückblick: Ukrainische Rekruten überleben in Artjomowsk im Schnitt vier Stunden

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.

Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.