Meinung

Was wird aus der Schweizer Neutralität?

Neutralitätspolitik der Schweiz: So halbherzig die Eidgenossenschaft sie im Fall des Ukraine-Krieges auch verfolgte, soll das Gleichgewicht endgültig zugunsten Kiews kippen. Zumindest wenn es nach der EU geht. Doch unfähig, Russland aufzuhalten, scheitert die EU sogar an der Schweiz.
Was wird aus der Schweizer Neutralität?Quelle: www.globallookpress.com © Sascha Steinach

Von Pierre Lévy

So langsam reicht es mit der Schweizer Neutralität! So könnte man die diskrete Verärgerung zusammenfassen, die die atlantischen Prominenten, insbesondere die der Europäischen Union, umtreibt. Dieser Ärger wird von den großen Medien laut und deutlich wiedergegeben. So zum Beispiel im Leitartikel von Le Monde vom 18. Februar, in dem Bern abschließend aufgefordert wurde: "Jetzt muss die Schweiz sich entscheiden."

Sich entscheiden, das heißt nach westlicher Logik, aus der "Ambiguität" herauskommen. Denn einerseits hat die Schweiz schließlich akzeptiert, sich den von Brüssel verhängten antirussischen Sanktionen anzuschließen, die offiziell darauf abzielen, Moskaus militärische Aktionen in der Ukraine zu stoppen – mit dem bekannten Erfolg. Andererseits weigert sich Bern jedoch weiterhin, Waffen und Munition an die Kiewer Armee zu liefern, und hält sich damit an seine Tradition der "Neutralität".

Die Schweiz verbietet nicht nur ihren eigenen Export von Militärgütern in ein Land, in dem Krieg herrscht, sondern blockiert auch den Wunsch verschiedener EU-Länder (Deutschland, Dänemark, Spanien, ...), Ausrüstung an die Ukraine zu liefern, wenn diese Ausrüstung von Schweizer Lieferanten gekauft wurde. So wurde der Bundeswehr beispielsweise die Lieferung von 12.400 in der Schweiz hergestellten Luftabwehrgeschossen an die Ukraine verweigert, die für die von Berlin an Kiew gelieferten Gepard-Panzer verwendet werden könnten.

Mitte Februar betonte der deutsche Vizekanzler Robert Habeck, dass er die Haltung der Schweizer Behörden "nicht verstehen" könne. Vielleicht hat der Grüne Schwierigkeiten mit dem Konzept der "Neutralität"? Dieses Schweizer Prinzip ist jedoch nicht neu. Es geht auf das 17. Jahrhundert zurück, war 1815 formalisiert und 1907 in der Haager Konvention verankert worden. Es wurde 1993 in einem Bericht des Bundesrats (der Regierung) bekräftigt. Die Neutralität umfasst den Willen zur Unparteilichkeit und ist die Grundlage für die Fähigkeit des Landes, in Konflikten zu vermitteln, in denen die Kontrahenten nicht bereit sind, miteinander zu sprechen. Viele Schweizer Bürger – laut Umfragen 90 Prozent – sind nicht wenig stolz auf diesen Beitrag zu einer friedlichen Befriedung der Welt.

Für die westlichen Politiker gehört das alles jedoch in eine andere Zeit. Sie sind nun versucht, dem berühmten Zitat zu folgen, dass "jeder, der nicht für uns ist, gegen uns ist".

Ihre Wut stieg noch weiter, als Mitte März bekannt wurde, dass die Schweizer Armee 60 Rapier-Boden-Luft-Abwehrsysteme zerstören wollte. Diese britischen Raketen stammen zwar aus den 1960er-Jahren, aber die Schweiz hatte sie 1980 angeschafft und mehrfach modernisiert. Sie wurden erst im vergangenen Jahr außer Dienst gestellt. Einem Militärexperten zufolge könnten diese Waffen gegen Hubschrauber, Drohnen und sogar Kampfflugzeuge weiterhin eingesetzt werden. Noch schlimmer für den Westen: Die Schweizer Streitkräfte planen, 250 M113-Panzer und 100 M109-Kanonen zu verschrotten – US-Material, von dem einige ähnliche Geräte derzeit im Donbass im Einsatz sind.

Einigen Umfragen zufolge ist das Schweizer Volk in zwei ungefähr gleich große Hälften geteilt: in diejenigen, die, wie von zwei Parteien vorgeschlagen – der Partei "Die Mitte" und der FDP. Die Liberalen, die der rechten Mitte zugerechnet werden –, einer Lockerung der "Neutralität" zustimmen möchten, um "der Ukraine zu helfen"; und diejenigen, die den Status quo verteidigen. Dies ist beispielsweise bei einigen Sozialdemokraten der Fall, die Kiew zwar unterstützen (und sich für einen EU-Beitritt einsetzen), es aber ablehnen, "dem Krieg noch mehr Krieg hinzuzufügen" (vielleicht in dem Bewusstsein, dass eine Aufgabe der Neutralität sie bei den für Oktober angesetzten Parlamentswahlen Federn kosten könnte).

Die größte Partei des Landes, die Schweizerische Volkspartei (SVP, oft als "populistisch" bezeichnet und manchmal als rechtsextrem eingestuft), setzt sich ihrerseits für ein Referendum zur Stärkung der Neutralität des Landes ein. Ihr wichtigster Führer, Christoph Blocher, ist nicht der Initiator dieses Vorschlags, die sich als überparteilich versteht. Die SVP will jedoch dazu beitragen, die notwendigen Unterschriften für ein solches Referendum zu sammeln. Bis Mai 2024 werden 100.000 Unterschriften benötigt, was nicht unerreichbar zu sein scheint.

Bei der Abstimmung wird es um einen Zusatz zur Verfassung gehen. In diesem Fall:

"Die Schweiz beteiligt sich nicht an militärischen Konflikten zwischen Drittstaaten und ergreift auch keine nichtmilitärischen Zwangsmaßnahmen gegen einen kriegführenden Staat. (...) Die Schweiz macht von ihrer immerwährenden Neutralität Gebrauch, um Konflikte zu verhüten und zu lösen, und stellt ihre Dienste als Vermittlerin zur Verfügung."

Es ist anzunehmen, dass eine solche Formulierung den Zorn der EU schüren würde, mit der die Schweizerische Eidgenossenschaft schon vor dem Ausbruch des Krieges im Clinch lag. Im Mai 2021 hatte Bern die Verhandlungen über einen neuen Rahmen für die Beziehungen zwischen der Schweiz und den 27 EU-Staaten abgebrochen und Brüssel damit verblüfft.

Die EU wollte durchsetzen, dass die zahlreichen bestehenden sektoralen Abkommen durch einen weitaus verbindlicheren Gesamtrahmen ersetzt werden. Als Zeichen dafür, wie sehr das Volk die Souveränität schätzt, hatte die Bundesregierung schließlich die Tür vor dem Druck der EU zugeschlagen. Damals sagten viele guten Geister katastrophale Folgen für die Schweiz voraus, die unter dieser "Isolation" schrecklich leiden werde (zumal Brüssel Vergeltungsmaßnahmen vorsah).

Seitdem ist die Schweiz nicht zusammengebrochen und befindet sich in einer Situation, um die sie die meisten EU-Länder beneiden könnten. Und daher kann sie es sich leisten, dem atlantischen Druck – ein wenig – zu widerstehen.

Wenn es der NATO also nicht gelingt, Russland zu unterwerfen – was mehr als wahrscheinlich ist –, könnten die westlichen Politiker vielleicht darüber nachdenken, auf einen Gegner auszuweichen, dessen Größe ihnen besser passt?

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Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.