Meinung

Demokratische Globalisierung – Die Entmachtung des Dollars hat begonnen

Die USA und der von ihnen abhängige "kollektive Westen" sehen sich angesichts des drohenden Zusammenbruchs des bisherigen, US-Dollar-gestützten Weltfinanz- und Handelssystems einer beispiellosen Herausforderung gegenüber. In Lateinamerika, Afrika und Asien bilden sich Alternativmodelle zur westlichen Hegemonie heraus.
Demokratische Globalisierung – Die Entmachtung des Dollars hat begonnenQuelle: www.globallookpress.com © Rafael Henrique/Keystone Press Agency

Von Rüdiger Rauls

Die Welt will sich dem Machtanspruch der USA entziehen. Dazu gehört auch die Entmachtung des Dollars und der westlichen Finanzstrukturen. Die treibenden Kräfte in diesem Prozess sind dabei die BRICS-Staaten, allen voran China als wirtschaftliches Schwergewicht und Russland als militärisches. Wie weit der Weg dorthin ist, kann heute noch nicht klar gesagt werden. Aber die ersten Schritte sind gemacht.

BRI, BRICS, SOZ und andere Konkurrenten

Mit dem Start der Seidenstraßen-Initiative (BRI) vor etwa zehn Jahren begann China, sich aus der Abhängigkeit vom Westen zu lösen und eigene wirtschaftliche Strategien zu entwickeln. Das BRICS-Format (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) wie auch die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) waren weitere Schritte in diese Richtung. In westlicher Überheblichkeit hatte man angebotene Teilnahme abgelehnt. Man schien wohl der Meinung zu sein, dass diese Initiativen wenig Erfolg haben würden, wenn man dem Westen nicht die führende Rolle darin überlassen würde.

Seitdem überrollt eine Welle von Initiativen und Innovationen, die besonders von China ausgehen, den Globus und eröffnet all jenen Staaten ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten, die vom Westen bisher links liegen gelassen wurden. Diese Formate bieten kostengünstige Angebote für den Aufbau von Infrastruktur, weil sie nicht in Dollar oder Euro abgeschlossen werden müssen, und die angeschlossenen Entwicklungsbanken sichern günstige Kredite zu. China hat sogar seinen Einfluss auf den Heimatmärkten der führenden kapitalistischen Staaten ausgedehnt.

Je stärker Chinas Wirtschaft und Russlands Militär wurden und die Zusammenarbeit zwischen den beiden, umso mehr sahen sich die westlichen Staaten in ihrer Vorherrschaft bedroht. Um deren Aufstieg zu behindern, setzten die westlichen Staaten ihre Finanzkraft und administrative Mittel ein. Zölle wurden unter Trump gegen China erhoben und unter Biden nicht zurückgenommen. Auch die EU behinderte chinesische Versuche, durch Unternehmenskäufe Zugang zu fortgeschrittener westlicher Technologie zu erlangen.

Sanktionen wurden meist unter dem Vorwurf von Menschenrechtsverletzungen verhängt, nicht nur gegen China und Russland, sondern insgesamt gegen Staaten, die sich der westlichen Hegemonie entziehen wollten. Vermögen wurden eingefroren, Ausschlüsse aus dem westlichen Zahlungssystem SWIFT ausgesprochen. Der Westen zog alle Register seiner finanztechnischen Mittel und schuf damit selbst die Voraussetzungen für den Ruf nach einer neuen Reservewährung, die nicht dem Kommando des Westens und der USA unterliegt.

Besonders die BRICS-Staaten bilden den Kern dieser Entwicklung hin zu einer neuen globalen Finanzarchitektur, die nicht von den alten Hegemonialmächten beherrscht wird. Wie weit sie auf dem Weg der Loslösung aus diesen Strukturen vorangekommen sind, kann im Moment noch nicht genau gesagt werden. Erkennbar aber ist, dass besonders unter diesen Staaten und in Zusammenarbeit mit dem Iran Entwicklungen vor sich gehen, die auf den Aufbau neuer finanztechnischer Instrumente hinarbeiten.

Geldmangel

Als besondere Schwierigkeit erweist sich die Loslösung von westlichen Reservewährungen, die nun zur Schaffung einer alternativen Reservewährung unter der Führung der BRICS-Staaten zwingt. Dabei stehen Letztere für etwa ein Drittel der Weltbevölkerung und fast ein Viertel der globalen Wirtschaftsleistung. Im Gegensatz dazu machte jedoch der Anteil ihrer Währungen nach Angaben der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) vom April 2022 insgesamt nur 11 Prozent am weltweiten Devisenhandel aus. Der Anteil des Dollars betrug seinerzeit 60 Prozent, der des Euro immerhin noch 20 Prozent und der des Yuan nur 2 Prozent.

Die wirtschaftliche Kraft dieser Staaten steht somit in einem deutlichen Missverhältnis zu den Geldmengen in eigenen Währungen. Das hat seinen Grund darin, dass diese weitestgehend nur im Inland im Umlauf sind. Jedoch hatten besonders Russland und China zusätzlich dazu gewaltige Reserven in Dollar und Euro aufgebaut durch ihre Handelsüberschüsse gegenüber dem Westen, als im Rahmen der Globalisierung der Handel noch größtenteils reibungsfrei funktionierte.

Der Westen erhielt russische und chinesische Produkte und Rohstoffe, China und Russland westliche Währungen. Mit diesen Reserven hatten sie ihre Staatskassen gefüllt und konnten ihren Bedarf auf den Weltmärkten decken. Weil Russland und China in Dollars schwammen, bestand auch bis in jüngste Zeit wenig Bedarf an Handelsabkommen mit anderen Staaten auf Yuan- oder Rubelbasis. Dies ist der Grund für die relativ geringen Geldmengen in eigener Währung im nationalen Umlauf gegenüber den Reservewährungen Euro und Dollar, die um den Globus zirkulieren.

Mit der zunehmenden Sanktionspolitik des Westens wurden Chinesen und Russen vorsichtiger. Hatte China 2014 noch Währungsreserven in Höhe von fast 4 Billionen Dollar, so fielen diese besonders infolge der Sanktionen gegen Russland nach 2014 auf fast 3 Billionen im Jahre 2016. Die alten Höchststände wurden nie wieder erreicht. Stattdessen investierte besonders China zunehmend in westliche Unternehmenskäufe und im Rahmen der Seidenstraßen-Initiative in Ausbau und Finanzierung von Infrastruktur weltweit. Auch Gold wurde vermehrt erworben.

Der Übergang vom Gold zum Dollar wie auch die Verschmelzung der europäischen nationalen Währungen zum gemeinsamen europäischen Euro offenbaren eines der grundlegenden Probleme des Welthandels: Handel braucht ausreichende und gleichzeitig werthaltige Zahlungsmittel. Durch die Finanzsanktionen des Westens besonders gegenüber Russland wird der Weltgemeinschaft ihre Abhängigkeit von Dollar und Euro anschaulich vor Augen geführt und auch das Bedrohungspotential, das damit verbunden ist.

Wenn auch in jüngster Zeit Handelsabkommen auf der Basis nationaler Währungen stark zugenommen haben, so werden Erstere doch immer noch zu großen Teilen in Dollar oder Euro abgeschlossen. Der Grund dafür liegt in den geringen Geldmengen jenseits von Dollar und Euro. Um diesem Mangel zu entkommen, werden darüber hinaus in letzter Zeit zunehmend andere Währungen zusätzlich verwendet, wie Hongkong-Dollar, Singapur-Dollar oder Dirham. Da diese sehr eng mit dem Dollar verbunden sind, stellen sie einen Zugang zur Stabilität des Dollarraums dar, ohne selbst Dollar zu sein.

Behelfslösungen

Besonders Russland und China sind dazu übergegangen, immer mehr Handelsverträge auf der Basis nationaler Währungen mit anderen Staaten abzuschließen. Dollar und Euro werden immer häufiger gemieden. Heute macht der Dollar nur noch wenig mehr als 40 Prozent des weltweiten Handels aus, Anfang der 2000er Jahre waren es noch 66 Prozent. Sein Anteil an den internationalen Devisenreserven fiel innerhalb von 20 Jahren von 71 auf 60 Prozent.

Dennoch können diese zwischenstaatlichen Abkommen auf der Grundlage nationaler Währungen nur eine Übergangslösung sein. Denn sie tragen einen erheblichen Nachteil in sich: Die Beschränkung auf die nationalen Währungsräume. Nicht umsonst ist der Dollar zur vorherrschenden Währung auf dem Planeten geworden, weil mit ihm weltweit Handel betrieben werden kann ‒ selbst in Staaten, die gar nicht zum amerikanischen Wirtschaftsraum gehören.

Im Gegensatz zum Yuan, der inzwischen Weltgeltung erlangt hat, steht vielen anderen BRICS-Währungen im bilateralen Handel nur ein begrenztes Angebot an Waren oder Dienstleistungen zur Verfügung, die gegen die nationale Währung eingetauscht werden können. Hierin liegen die Schwierigkeiten eines Handels auf der Basis nationaler Währungen. Das drückt sich aus in den Handels- und Zahlungsbilanzdefiziten vieler Staaten.

So hat die Ausweitung des Handels zwischen Russland und Indien auf der Basis von Rupie und Rubel zu einer Anhäufung indischer Rupien bei russischen Banken geführt. Anscheinend steht diesem Rupienüberhang auf den russischen Konten nicht genügend Angebot auf indischer Seite gegenüber, sodass dieser durch Käufe oder Investitionen abgebaut werden könnte. Um dieses Problem zu umgehen, hat man statt des Dollars den Dirham der Vereinigten Arabischen Emirate mit hinzugenommen.

Selbst im Handel zwischen Russland und China, der mittlerweile zu 60 Prozent in Eigenwährungen, aber bis vor wenigen Jahren noch zu 80 Prozent in Dollar abgerechnet wurde, übersteigen die Yuan-Mengen die des Rubels bei weitem. Dabei verfügt Russland mit seinen Energieträgern immerhin über ein großes Angebot im Gegensatz zum wirtschaftlichen Aufsteiger Indien, geschweige denn gegenüber vielen anderen Ländern.

Besonders zwischen China und den Energielieferanten Russland, Saudi-Arabien, Iran und anderen wurde der Handel auf Basis des Yuan erheblich ausgeweitet. "China kauft an Gas, was es kriegen kann", schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 3. Februar dieses Jahres: Durch seine Käufe könnte China "am globalen LNG-Markt bald zum beherrschenden Akteur" aufsteigen. So kaufte unlängst der französische Total-Konzern Gas in Shanghai und bezahlte in Yuan. China kauft in Yuan bei den aufstrebenden Staaten am Golf seine Energie, die dafür mit Yuan den Aufbau ihrer Infrastruktur finanzieren – eine Win-Win-Situation nach Chinas Geschmack.

Im Falle der Golfstaaten und sonstiger Energielieferanten wie auch der Nahrungsmittellieferanten Argentinien und Brasilien sind die Grundlagen für einen Handel auf der Basis nationaler Währungen gegeben. Beide Seiten profitieren von den Angeboten der anderen. Das ist aber nur der Fall, wenn in beiden Wirtschaftsräumen ein Angebot besteht, das für beide Seiten einen wirtschaftlichen Vorteil bringt. Schwieriger wird es da mit Staaten wie Kuba, das kaum etwas exportieren kann, weil aufgrund der westlichen Sanktionen überall Mangel herrscht.

Denn bei aller Übereinstimmung im gemeinsamen politischen Interesse, von den westlichen Reservewährungen und Handelsstrukturen unabhängig zu werden, darf nicht übersehen werden, dass Handel in Gewinnabsicht betrieben wird. Warenaustausch zu betreiben, nur um Fremdwährungen zu verbrauchen, während die eingehandelten Produkte auf dem Weltmarkt günstiger zu haben gewesen wären, macht wirtschaftlich wenig Sinn und führt zur Schwächung der Wirtschaft – auf beiden Seiten.

Zudem unterliegen viele Währungen besonders aus wirtschaftlich unterentwickelten Staaten starken Kursschwankungen. Obwohl die indische Rupie über ein internationales Gewicht verfügt, war sie allein im Jahr 2022 mit einem Rückgang von mehr als zehn Prozent eine der schwächsten asiatischen Währungen. Ein solcher Wertverlust macht Investitionen und Kreditvergabe aufgrund ihrer langfristigen Auslegung zu einem schwer zu kalkulierenden Risiko.

So sinnvoll es politisch sein mag, Handel auf der Basis von nationalen Währungen abzuwickeln, um sich fürs Erste den Risiken des Dollars und Euros zu entziehen, so kann darin keine langfristige Perspektive für den Welthandel gesehen werden. Auf eine übergeordnete Reservewährung aller BRICS-Staaten und der Interessenten wird auf Dauer nicht verzichtet werden können.

Gemessen an den Dollars, die tagtäglich um den Planeten kreisen, werden die Geldmengen der Einzelstaaten dem Ausmaß der Zahlungsströme nicht gerecht, die vom Welthandel bewegt werden. Auch das Gold war trotz seiner Werthaltigkeit durch den Dollar ersetzt worden, weil seine Mengen nicht ausreichten, um Welthandel, Investitionstätigkeit und Kreditfinanzierung gewährleisten zu können.

Neue Finanzarchitektur

Um das Problem der Geldmengen anzugehen, hatte der russische Präsident Wladimir Putin beim letzten (virtuellen) Treffen der BRICS-Staaten am 23. Juni 2022 den Vorschlag der "Schaffung einer internationalen Reservewährung auf der Grundlage des Währungskorbs unserer Länder" gemacht. Zuletzt hatte auch der brasilianische Präsident Lula da Silva bei seinem Treffen mit Xi Jinping am 13. April dieses Jahres in Peking die Forderung nach der "Schaffung einer Währung für die BRICS-Staaten" bekräftigt.

Bisher aber gibt es keine offiziellen Verlautbarungen darüber, wie diese Währung gestaltet werden soll und in welchem Verfahren und Verhältnis diese in diesen Korb eingehen. Als zusätzliche Quelle für Geldmengen wird die Deckung durch Gold und andere Rohstoffe dieser Staaten gelegentlich ins Gespräch gebracht. Insgesamt aber ist im Moment noch nicht erkennbar, wie weit dieser Prozess vorangeschritten ist.

Um sich von Dollar und Euro lösen zu können, müssen neben den Fragen der Geldmengen auch die der grenzüberschreitenden Zahlungsabwicklung gelöst werden, die bisher weitgehend durch das westliche SWIFT-System bestimmt wurde. Besonders China und Russland arbeiten in Kooperation mit anderen Staaten an neuen Verfahren der Zahlungsabwicklung – meist auf Basis der Blockchain-Technologie.

So erklärte der russische Außenminister Sergei Lawrow: "Jetzt entwickeln wir ... mit all unseren Freunden, mit allen Partnern, neue Ansätze zur Schaffung von Lieferketten, neue Ansätze zur Finanzierung, zu Banktransaktionen, die in keiner Weise von den Launen der USA abhängig sein werden." Aber auch viele andere Staaten schaffen ihre eigenen Systeme oder übernehmen bereits weit entwickelte wie das russische System MIR.

Chinas grenzüberschreitendes System (Cross-Border Inter-Bank Payments System) nutzen Berichten zufolge mittlerweile mehr als 1.300 Teilnehmer in über 100 Ländern und Regionen. Immer häufiger wird der Yuan als alternative Handelswährung gegenüber Euro und Dollar genutzt. Sein Anteil am Welthandel hat sich innerhalb eines Jahres von 2 Prozent im April 2022 auf zuletzt etwa 4,5 Prozent mehr als verdoppelt. Selbst Putin befürwortete bei seinem Treffen mit Xi Jinping aus praktischen Gründen "die Rolle des chinesischen Yuan als neue Handelswährung erster Wahl".

Bereits im November letzten Jahres wurde eine Yuan-Clearingstelle mit Argentinien offiziell gestartet. In den letzten Monaten waren bereits ähnliche Vereinbarungen mit Pakistan, Kasachstan, Laos und anderen unterzeichnet worden. Nun haben auch China und Brasilien eine solche Absichtserklärung unterzeichnet. Diese Clearingstellen vereinfachen die Zahlungsabwicklung von Handel und Investitionen zwischen den Staaten.

Der Yuan entwickelt sich immer mehr zur Handelswährung im Rahmen der BRICS und gegenüber anderen Staaten. Unbestritten ist, dass die chinesische Digitalwährung, der e-Yuan, in seiner Erprobung weiter fortgeschritten ist als der digitale Rubel, der demnächst in Russland eingeführt werden soll, auch weiter als die digitale Rupie.

Dass der e-Yuan schon seit der Winterolympiade in China 2022 im Alltag verwendet wird, sich bewährt hat und von der chinesischen Bevölkerung gut angenommen wird, spricht für seine Verwendung als bevorzugte Handelswährung im Rahmen der BRICS. Dass der russische Präsident Putin angeregt hat, ihn aus praktischen Gründen zu bevorzugen, drückt eine Sichtweise aus, die über nationalen Eitelkeiten steht.

"Ob diese [gemeinsame Währung] nun ein digitaler Rubel, eine digitale Rupie, ein digitaler Yuan oder eine andere neue Währung sein wird, ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass diese Währung nach den Regeln unserer Länder funktioniert." In dieser Äußerung des stellvertretenden Vorsitzenden der russischen Staatsduma, Alexander Babakow, offenbart sich ein politisches Bewusstsein, das sich dem gemeinsamen Interesse und Vorteil verpflichtet sieht. Angesichts der gegenseitigen Übervorteilung unter den westlichen Staaten ist es fraglich, ob Letztere diesen Entwicklungen noch etwas entgegensetzen können.

Rüdiger Rauls ist Buchautor und betreibt den Blog Politische Analyse.

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