Meinung

Indien sollte sich warm anziehen: Der Westen braucht keine weitere Supermacht

Das Verhältnis zwischen Indien und dem Westen scheint so gut zu sein wie noch nie. Die USA und ihre Verbündeten umgarnen Delhi als "größte Demokratie der Welt" und als Partner gegen China und Russland. Doch Indien sollte aufpassen: Es gibt auch Kräfte, die das Land gern in Stücke zerreißen würden.
Indien sollte sich warm anziehen: Der Westen braucht keine weitere SupermachtQuelle: Gettyimages.ru © samxmeg

Von Dmitri Kossyrew

Der Westen hält den Atem an und wartet voller Hoffnung: Was, wenn Indien im nächsten Jahr zerbricht und zu zerfallen beginnt? Gründe für diese Hoffnungen gibt es in der Tat. Und man denkt auch darüber nach, wie man des Riesenlands beim Zusammenbruch nachhelfen könnte. 

Der aktuelle Anlass für die neue Runde derartiger Hoffnungen und Pläne scheint exotisch zu sein: Kastenprobleme. Das unerwartete Aufwärmen dieses Themas hat das Potential, alle Erwartungen an die indischen Parlamentswahlen im Jahr 2024 völlig über den Haufen zu werfen.

2024 wird weltweit ein spannendes Jahr werden, man bedenke, in welchen Ländern die derzeitigen Machthaber um ihre Wiederwahl fürchten müssen. Die "to go"-Liste ist lang und schließt die USA und das Vereinigte Königreich ein. Auf der anderen Seite der geopolitischen Fronten, im Nicht-Westen, schien dagegen bislang alles stabil zu sein. Was Indien betrifft, so waren sich bis vor Kurzem alle sicher, dass die Partei von Narendra Modi (Bharatiya Janata Party) die dritte Wahl in Folge souverän gewinnen würde. Die persönlichen Umfragewerte des Premierministers lagen zuletzt nahe der 75-Prozent-Marke, auch seine Partei ist beliebter als jemals zuvor.

Indien ist derzeit die am schnellsten wachsende Wirtschaft der Welt, sein Einfluss nimmt zu und das 21. Jahrhundert wird bereits als das "Jahrhundert der Großen Drei" – China, USA und Indien – bezeichnet. Eine neue, nicht jedem genehme Realität. 

Und jetzt plötzlich – die Kastenfrage. Die Geschichte ist sehr lang und verwirrend, beginnend mit der Tatsache, dass am 2. Oktober eine Volkszählung im Bundesstaat Bihar stattfand (dieser allein ist von der Bevölkerungszahl her – 130 Millionen Menschen – mit Russland vergleichbar). Die Volkszählung ergab, dass der Anteil niedriger Kasten dort gegenüber der vorherigen, noch von den Briten durchgeführten Volkszählung von 1932, noch einmal gestiegen ist.

Warum ist das ein Problem? Indien hat seit Jahrzehnten ein System der Vorzugsbehandlung für die unterdrückten Kasten buchstäblich überall und in allem. Und jetzt stellt sich heraus, dass jemand in einem Bundesstaat jahrzehntelang unterprivilegiert war, und dies ist nur ein Bundesstaat von vielen. Die Diskussion darüber, wer wem was schuldet, kann also sehr lang, wenn nicht sogar endlos werden, und ein einziger unglücklicher Satz eines beliebigen Politikers kann einen landesweiten Sturm auslösen. Alle bisherigen Prognosen zur anstehenden Wahl würden dadurch ins Wanken geraten. Wenn Sie ein Land zerstören wollen, fangen Sie in ihm eine fruchtlose Diskussion darüber an, wer welche Privilegien genießt und warum.

Das ist es, was sie sich im Westen erhoffen. Die Frage ist nur, wer genau diese Hoffnungen hegt. Das Interessanteste an dieser Geschichte ist nicht das, was in Indien passiert (dort gibt es immer eine Million Ereignisse zur gleichen Zeit), sondern wie sich das wahre Wesen bestimmter Rassen von Westlern manifestiert. Ein ideologischer und politischer Striptease ist immer amüsant.

Einerseits hat es oberflächlich betrachtet schon lange keine so freundlichen und liebevollen Beziehungen zwischen Indien einerseits und den USA und allen ihren Verbündeten andererseits gegeben wie heute. Man umgarnt Indien im Westen gern mit dem Satz, dass es sich dabei um "die größte Demokratie der Welt" handelt. Der Sinn der Lobhudelei ist es, Indien und China gegeneinander auszuspielen, zumal es im Land selbst viele gibt, die mit dem Nachbarn, wenn nicht streiten, so doch auf härteste Art und Weise um die künftige wirtschaftliche Vormachtstellung in der Welt konkurrieren wollen. Und das zeigt Früchte – bis hin zur Beteiligung Delhis an Strukturen, die zwar keinen militärischen antichinesischen Block bilden, dem aber nahekommen. Indien ist ein Freund des Westens, ein Partner.

Gleichzeitig gibt es aber im Westen auch kompromisslose Liberale, die bei dem Wort "Indien" geradezu aufschäumen. Solche Ideologen schreien den Machthabern in ihren Ländern zu: Mit wem flirtet ihr, wisst ihr, was in diesem Indien vor sich geht?

Ein Beispiel: der plötzliche und heftige Skandal, den Kanada wegen des mysteriösen Mordes an einem Sikh-Terroristen in dem Land angefacht hat. Die Folgen für Kanada sind eine Sache, aber einen Riss zwischen den Religionsgemeinschaften in Indien selbst zu verursachen, ist für einige verlockend.

Es gibt eine indische Diaspora von mehreren Millionen Menschen auf der ganzen Welt, und dem Westen geht es im Wesentlichen um die Frage, wie man (am Beispiel Kanadas) diese Landsleute dazu bringen kann, sich untereinander zu streiten, und wie dieser Streit auf das Land selbst überschwappen kann.

Hier eine weniger bekannte Geschichte – ebenfalls aus diesem Jahr. Irgendein Finanzamt in New York hat die Adani Corporation, eine für das heutige Indien wichtige Unternehmensgruppe, des Betrugs bezichtigt.

Eine Zwischenüberschrift, um es deutlich zu machen: "Der Skandal wirft Zweifel an Modis Fähigkeit auf, das Land als die am schnellsten wachsende Wirtschaft der Welt zu erhalten."

Schließlich, um sicherzustellen, dass es bei wirklich jedem ankommt, druckte Vox eine lange Liste aller "Verfehlungen" von Modi und seiner Partei sowie eine gründliche Analyse der Schwächen und inneren Verwerfungen der indischen Gesellschaft ab. Mit einer Schlussfolgerung: Wie Viktor Orbán in Ungarn haben wir es in Indien mit "Renegaten der Demokratie" zu tun. Kurzum: "Dieses Land gehört nicht zu unserer Kaste, und es wäre gut, wenn es zusammenbrechen würde."

Übersetzung aus dem Russischen. Der Artikel ist am 29. Oktober 2023 auf ria.ru erschienen. 

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