Meinung

"Reporter ohne Grenzen" ignorieren Morde an Journalisten in Gaza

Reporter ohne Scham: Der Jahresbericht der Organisation "Reporter ohne Grenzen" spielt das Ausmaß der Morde durch israelische Angriffe an Medienschaffenden und Journalisten in Gaza herunter.
"Reporter ohne Grenzen" ignorieren Morde an Journalisten in GazaQuelle: AFP © Mohammed Abed

Von Eva Bartlett

Ende 2023 veröffentlichte Reporter ohne Grenzen (Reporters sans Frontières – RSF), die internationale Organisation, die sich angeblich für Informationsfreiheit und Schutz der Rechte von Journalisten einsetzt, ihren Jahresbericht. Der Bericht spielt massiv die zahlreichen und gezielten tödlichen Angriffe gegen palästinensische Journalisten, Medienschaffende und ihre Familien in Gaza herunter.

Die Ankündigung des Berichts mit dem Titel "Zusammenfassung: Weltweit wurden 45 Journalisten bei der Ausübung ihrer Dienst getötet – ein Rückgang, trotz der Tragödie in Gaza" ignoriert die meisten palästinensischen Journalisten, die 2023 von Israel getötet wurden. In dem Bericht heißt es, im Jahr 2023 seien weltweit 16 Journalisten weniger getötet worden als im Jahr 2022. Das entspricht jedoch nicht der Realität.

Ferner wird behauptet, dass mit Stand vom 1. Dezember 2023 nur 13 palästinensische Journalisten während ihrer Berichterstattung getötet worden seien. Es wird zudem separat darauf hingewiesen, dass es 56 getötete Journalisten wären, "wenn Journalisten mit einbezogen werden, die unter Umständen getötet wurden, die nicht nachweislich mit ihrer Arbeit in Zusammenhang standen."

Andere Quellen schätzen die Gesamtzahl der in Gaza getöteten palästinensischen Journalisten deutlich höher. Das UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) berichtete am 1. Dezember, unter Berufung auf das Palästinensische Journalistensyndikat (PJS), dass 73 Journalisten und Medienschaffende getötet worden seien. Während die Zahlen des Komitees zum Schutz von Journalisten (CPJ), mit Stand vom 20. Dezember 2023, niedriger sind und mindestens 61 getötete palästinensische Journalisten seit dem 7. Oktober auflisten, hat das CPJ zumindest nicht Dutzende ermordeter palästinensischer Journalisten ignoriert, so wie es RSF getan hat.

Tatsächlich betonte das CPJ – im Gegensatz zum zuversichtlichen "Für Journalisten lief es viel besser, als in den vergangenen Jahren" bei RSF –, dass in den ersten zehn Wochen des israelischen Krieges in Gaza "mehr Journalisten getötet wurden, als weltweit jemals zuvor über ein ganzes Jahr hinweg betrachtet." Das CPJ äußerte seine Besorgnis über "ein offensichtliches Muster von gezielten Angriffe auf Journalisten und ihre Familien durch das israelische Militär". Es ist nicht klar, wie RSF erkennen will, welche Umstände "nicht nachweislich mit der Arbeit ermordeter Journalisten aus Gaza in Zusammenhang stehen" und wer "aktiv berichtet". Gaza wird unerbittlich von Israel bombardiert und es kommt dadurch zu häufigen Ausfällen des Internets. Tatsächlich wäre es angesichts der ununterbrochenen israelischen Bombenangriffe – und Angriffe durch Scharfschützen – nahezu unmöglich zu erkennen, ob Journalisten zum Zeitpunkt ihres Todes am Berichten waren oder nicht –  wenn auch von zu Hause aus.

Allerdings stellt RSF im Abschnitt zur Methodik gegen Ende seines ausführlicheren Berichts fest, dass es "den Tod eines Journalisten in seinem Barometer zur Pressefreiheit nur dann protokolliert, wenn er bei der Ausübung seiner Arbeit oder im Zusammenhang mit seinem Status als Journalist getötet wurde." Viele palästinensische Journalisten in Gaza haben gerade aufgrund ihres Status als Journalisten Morddrohungen von der israelischen Armee erhalten. Und viele der Bedrohten wurden später zusammen mit ihren Familienangehörigen getötet, nachdem israelische Luftangriffe ihre Häuser oder Zufluchtsorte trafen.

Wir haben auch den Präzedenzfall aus früheren bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Israel und Gaza, in den Jahren 2009, 2012, 2014 und 2021, wo Israel Medienzentren im Gazastreifen mit unterschiedlicher Schwere bombardierte – einschließlich eines, in dem ich 2009 dabei war. Zwei große Mediengebäude wurden beschädigt und schließlich im Jahr 2021 komplett zerstört. Das Ziel besteht eindeutig darin, den Nachrichtenfluss aus Gaza zu stoppen – und dazu gehört auch die gezielte Tötung von Journalisten.

Am 15. Dezember kritisierte das palästinensische Journalistensyndikat PJS den Bericht von RSF und beschuldigte die Organisation sogar der Komplizenschaft mit Israel, durch Schönfärberei seiner Kriegsverbrechen gegen palästinensische Journalisten. Dabei handelt es sich um dasselbe PJS, dessen Statistiken das OCHA der Vereinten Nationen zitiert. Statistiken, die laut PJS "genau sind und auf professioneller und rechtmäßiger Dokumentation basieren, die den höchsten Standards bei der Dokumentation von Verbrechen gegen Journalisten entspricht." Diese Dokumentation umfasst Journalisten, die bei israelischen Luftangriffen in ihren Häusern getötet wurden – eben genau weil sie Journalisten waren. Als Reaktion darauf behauptete RSF, es lägen "noch keine ausreichenden Beweise oder Hinweise vor", um festzuhalten, dass "mehr Journalisten im Gazastreifen in Ausübung ihrer Arbeit oder wegen des Umstands, dass sie Journalisten waren, getötet worden sind."

RSF bezeichnete die Anschuldigungen des PJS als "unsinnig", beklagte sich darüber, dass es "dem Image unserer Organisation schaden zufügt" und tadelte das PJS, es solle "unsere Motive nicht anzweifeln" oder über Zahlen "streiten". "Streit um Zahlen" ist ein ziemlich unbekümmerter Einwand einer Organisation, die sich angeblich Sorgen darüber macht, dass Journalisten ins Visier genommen werden könnten.

Mindestens drei Journalisten wurden erschossen, mindestens drei durch einen israelischen Luftangriff auf Medieneinrichtungen im Zentrum von Gaza und viele weitere wurden durch israelische Luftangriffe in "sicheren" Gebiete getötet – Gebiete südlich von Wadi Gaza, Gebiete, in die Zivilisten auf Befehl Israels "zu ihrer Sicherheit" flüchten mussten. Trotz dieses Befehls zur Evakuierung gingen die israelischen Bombenangriffe im gesamten Gazastreifen weiter, sogar bis nach Rafah im Süden.

Zahlreiche weitere Journalisten – in Gaza-Stadt sowie nördlich und südlich davon – wurden in ihren eigenen Häusern zusammen mit ihren Familien getötet. Darunter befand sich ein Journalist in Khan Yunis, der am 2. November zusammen mit elf Mitgliedern seiner Familie getötet wurde, als ein israelischer Luftangriff, der auf ihn abzielte, sein Haus traf. Am 23. November wurde ein Journalist zusammen mit 20 seiner Familienmitglieder bei einem israelischen Luftangriff auf sein Haus im Flüchtlingslager Nuseirat, im Zentrum von Gaza, getötet.

Das Magazin The Cradle berichtete:

"Die israelische Armee hat einen Brief an die Nachrichtenagenturen Reuters und AFP geschickt." In diesem Brief hieß es: "Die israelische Armee nimmt alle militärischen Aktivitäten der Hamas im gesamten Gazastreifen ins Visier. Unter diesen Umständen können wir die Sicherheit Ihrer Mitarbeiter nicht garantieren."

Bei einem israelischen Bombenangriff auf das Haus eines Journalisten am 7. November kamen er und 42 Familienmitglieder ums Leben. Wie viele seiner ermordeten Kollegen war er Journalist für die von der Palästinensischen Autonomiebehörde betriebene Zeitung Wafa News. Viele der anderen ermordeten Journalisten arbeiteten für das von der Palästinensischen Autonomiebehörde betriebene Palästina-TV, unabhängige Nachrichtenagenturen, lokale Fernseh- und Radioprogramme und größere Sender wie Al Jazeera. Andere arbeiteten für Medien und Radiosender, die der Hamas nahestehen. Wieder andere waren Freiberufler.

Am 5. November berichtete PJS, dass mindestens 20 der seit dem 7. Oktober getöteten Journalisten "vorsätzliche Ziele von Angriffen auf ihre Häuser oder während der Ausübung ihrer Arbeit als Berichterstatter waren." Bereits diese Zahl ist höher als die von RSF gemeldete Gesamtzahl von 13 Journalisten, die bei der Ausübung ihrer Arbeit oder wegen ihrer Arbeit getötet wurden, und das obwohl der RSF-Bericht einen erfassten Zeitraum von fast einem Monat mehr abdeckt.

Israel bedroht Journalisten und tötet Familienmitglieder

Viele Journalisten in Gaza berichten, dass sie von der israelischen Armee bedroht werden. CPJ merkte an, dass man "zutiefst beunruhigt darüber sei, dass Journalisten die aus Gaza berichteten, erst Drohungen erhalten haben und anschließend ihre Familienangehörigen getötet wurden."

Ein solcher Vorfall folgte auf eine Drohung gegen den arabischen Reporter von Al Jazeera, Anas al-Sharif. Das CPJ stellte fest, dass er mehrere Anrufe von Offizieren der israelischen Armee erhalten hatte, in denen er angewiesen wurde, seine Berichterstattung einzustellen und den nördlichen Gazastreifen zu verlassen. Darüber hinaus erhielt er Sprachnotizen auf WhatsApp, die seinen Standort nannten. Sein 90-jähriger Vater wurde am 11. Dezember durch einen israelischen Luftangriff auf sein Haus im Flüchtlingslager Jabaliya getötet.

Am 13. November erklärte das CPJ:

"Acht Familienmitglieder des Fotojournalisten Yasser Qudih wurden getötet, als ihr Haus im südlichen Gazastreifen von vier Raketen getroffen wurde. Qudih selbst überlebte den Angriff."

Am 25. Oktober tötete ein israelischer Luftangriff auf das Flüchtlingslager Nuseirat im Zentrum von Gaza die Ehefrau, den Sohn, die Tochter und den Enkel des Büroleiters von Al Jazeera in Gaza, Wael al-Dahdouh.

Der beliebte junge und unabhängige Journalist Motaz Azaiza berichtete, er habe mehrere Drohungen über anonyme Telefonnummern erhalten, die ihn aufforderten, seine Berichterstattung einzustellen, berichtete CPJ und hielt fest, dass eine andere Korrespondentin von Al Jazeera, Youmna el-Sayed, davon sprach, dass ihr Mann einen Drohanruf von einem Mann erhalten habe, der sich als Mitglied der israelischen Armee identifizierte und die Familie warnte, sie solle Gaza verlassen oder sterben.

Die Voreingenommenheit der RSF – nicht nur in Palästina

Im Nachhinein gab RSF nur widerwillig zu, dass palästinensische Journalisten unter "Umständen getötet wurden, die nicht nachweislich mit ihrer Arbeit in Zusammenhang standen." In einem Bericht über Syrien aus dem Jahr 2021 hieß es:

"Seit 2011, sind mindestens 300 professionelle und nichtprofessionelle Journalisten während ihrer Berichterstattung über Artilleriebeschuss und Luftangriffe getötet worden oder wurden durch die verschiedenen Konfliktparteien ermordet."

Und weiter: "Diese Zahl könnte in Wirklichkeit sogar noch höher liegen."

Im Bericht von 2021 wurde das Syrische Netzwerk für Menschenrechte (SNHR) zitiert, das zu der Einschätzung kam, dass die Zahl der getöteten Journalisten im Syrienkrieg bis zu 700 betragen könnte. RSF akzeptierte diese Schätzung zwar, machte aber auch einen Vorbehalt, wenngleich einen viel bescheideneren als jenen über die Journalisten in Gaza:

"Eine Bestätigung solcher Schätzungen ist derzeit aufgrund der Schwierigkeit, an Informationen zu gelangen, nicht möglich."

Abgesehen von der Meldung von Zahlen, die RSF nicht bestätigen konnte, zitierte RSF aus einem Bericht der SNHR, eine Organisation, die in keiner Weise unparteiisch oder glaubwürdig ist. Wie in einem investigativen Artikel dargelegt wurde, hatte das SNHR seinen Sitz in Katar, wurde von ausländischen Regierungen finanziert, war mit hochrangigen syrischen Oppositionsführern besetzt und hatte offen eine militärische Intervention des Westens in Syrien gefordert.

Im Jahr 2017 schrieb Stephen Lendman über den Versuch von RSF, ein vom Swiss Press Club gesponsertes Podiumsgespräch zu verhindern, zu dem auch die britische Journalistin Vanessa Beeley eingeladen war. "Eine Organisation, die behauptet, die Informationsfreiheit zu verteidigen, fordert mich auf, eine Podiumsdiskussion abzusagen", empörte sich der Geschäftsführer des Clubs, Guy Mettan, damals. Er weigerte sich, die Veranstaltung abzusagen.

In der Zusammenfassung von RSF für 2023 waren auch zwei in diesem Jahr getötete russische Journalisten nicht aufgeführt. Einer kam durch einen ukrainischen Streubombenangriff und der andere durch einen ukrainischen Drohnenangriff ums Leben. Das Nachrichtenmagazin Sputnik ging der Angelegenheit nach und berichtete später, dass RSF sich geweigert habe, gegenüber Sputnik irgendwelche Kommentare abzugeben und sich dabei auf "redaktionelle Richtlinien" berufen habe.

Die Journalistin Christelle Néant bemerkte ebenfalls, dass RSF die russischen Journalisten eklatant außer Acht lässt. Sie schrieb über die Finanzierung der Organisation durch verschiedene Regierungen und insbesondere durch Agenten des Regimewechsels: die Open Society Foundation, die Ford Foundation und das vom US-Kongress finanzierte National Endowment for Democracy.

Diese berüchtigten Geldgeber von RSF erklären, warum die Organisation ihre Berichte entweder beschönigt oder aufbläht. Die "grenzenlose" Organisation hat offenbar ihre Grenzen, die sie nicht überschreiten darf. RSF berichtet zwar immer wieder ein Körnchen Wahrheit, aber ansonsten beschönigt es die Verbrechen Israels und Washingtons.

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Übersetzt aus dem Englischen.

Eva Bartlett ist eine unabhängige kanadische Journalistin. Sie hat jahrelang vor Ort über Konfliktgebiete im Nahen Osten berichtet, insbesondere in Syrien und Palästina, wo sie fast vier Jahre lang lebte.

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