Annalena Baerbock: "Härte und Dialog!" – oder: Das kleinere Übel ...

Mit ihrer strammen gesinnungsethischen Haltung gegenüber Russland schafft es die grüne Kanzlerin-Kandidatin, auch noch hinter das NATO-Konzept vom Harmel-Bericht 1967 zurückzufallen. Dagegen äußert sich selbst ihr Konkurrent von der CDU erheblich moderater. Sollte man etwa ...
Annalena Baerbock: "Härte und Dialog!" – oder: Das kleinere Übel ...Quelle: www.globallookpress.com © Kay Nietfeld

von Leo Ensel

Die mittlerweile Grauhaarigen Ende fünfzig und aufwärts werden sich noch erinnern: Wer in den späten Siebzigern oder Anfang der Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts in der alten Bundesrepublik sich als links begriff, ohne sich bei den maoistischen K-Gruppensekten oder der von Ostberlin gesponsorten DKP zu verorten, erlebte vor jeder Bundestagswahl in einer WG oder einschlägigen Szenekneipe immer die gleiche Tragödie:

"Na, was wählst Du denn diesmal?" – Nach unten entgleisende Gesichtszüge auf der anderen Seite. – "Na, was wohl?! Wieder mal das kleinere Übel ..." – Kummervoll-solidarisches Schweigen in der Runde – und darauf noch ein Bier!

Gemeint war natürlich die SPD, die uns regelmäßig drei oder vier Jahre verspätet mit genau jener CDU-Politik beglückte, vor der sie uns zuvor immer gewarnt hatte. Besonders Stramme wollten sich das nicht länger bieten lassen und markierten den Bürgerschreck, indem sie ihr Kreuzchen tapfer bei der DKP machten, obwohl sie weder mit den Kommunisten in Moskau und schon gar nicht mit denen in Pankow etwas am Hut hatten. Noch Strammere wählten ungültig oder gingen erst gar nicht zur Wahl – schließlich wusste man ja, auch das ein linker Allgemeinplatz dieser Zeit, dass man mit Wahlen nichts Grundsätzliches verändert. "Wenn Wahlen was ändern würden, wären sie verboten!", war auf manchen Mauerwänden zu lesen.

Einige bekannte Schriftsteller, Künstler, Professoren, Gewerkschafter, Jusos und fortschrittliche Theologen aus dem Umfeld des Evangelischen Kirchentags (es waren immer dieselben) forderten, allen Bedenken zum Trotz, alle vier Jahre wieder in großen selbst finanzierten Anzeigen in der Frankfurter Rundschau dazu auf, dieses Mal doch noch mal die SPD zu wählen, um dort die Linken, die es ja schließlich auch gäbe, zu stärken und dazu sichtbar gegen Sozialabbau und für Frieden und Abrüstung einzutreten. Und siehe da: Auf diese Weise kam für die SPD immer wieder ein erkleckliches Stimmenpolster von resignierten Nicht-Sympathisanten zusammen!

Das änderte sich erst, als zu Beginn der Achtziger eine neue frische Kraft – sie nannte sich forsch "Anti-Parteien-Partei" – auf den Plan trat. Die GRÜNEN hatten nicht nur "die Erde von unseren Kindern geborgt", sie verstanden sich auch als parlamentarischer Arm der Friedensbewegung: "Überwindet die Blöcke!", "Ein atomwaffenfreies Europa – von Lissabon bis zum Ural!", hieß es hoffnungsfroh. Endlich gab es eine Alternative zum kleineren Übel, und entsprechend lautete das neue Motto nun: "Aus Liebe zur SPD – Grün wählen!"

Die bitteren Tränen der Marieluise Beck-Oberdorf

Und es klappte. Im März 1983 zogen die GRÜNEN in den Bundestag ein und mischten den Laden gleich mächtig auf. Abgeordnete kamen mit dem Fahrrad, verwegen-bärtige Männer in Strickpullovern, das Rotationsprinzip und ein "Feminat" wurden eingeführt und die Bremer Realschullehrerin Marieluise Beck-Oberdorf überreichte Helmut Kohl als Gratulation zur Wahl zum Bundeskanzler einen Tannenzweig, um zugleich gegen das Waldsterben zu protestieren. (Kohls unwirsche Reaktion bedrückte allerdings das – es gibt nicht nur 'grüne Jungs'! – empfindsame Gemüt der Neu-Bundestagsabgeordneten so stark, dass diese in der, damals noch öffentlichen, Fraktionssitzung in Tränen ausbrach und die Politversammlung prompt in eine Gruppentherapiesitzung umfunktionierte.) Den Vogel freilich schoss Waltraud Schoppe ab, die nicht nur zu Recht die Vergewaltigung in der Ehe anprangerte und vor johlenden Alt-Abgeordneten das folgenschwere Wort "Sexismus" im Bundestag einführte, sondern in diesem Zusammenhang ausgerechnet Helmut Kohl bat, den neuen Oswalt Kolle der Nation zu geben und "die Menschen darauf hinzuweisen, dass es Formen des Liebesspiels gibt, die lustvoll sind und bei denen man nicht schwanger wird". (Worauf sie vielsagend hinzufügte, man könne natürlich "nur über das reden, wovon man wenigstens ein bisschen was versteht".)

Aber nicht nur der "Sexismus", auch der "Pazifismus" war plötzlich im deutschen Parlament kein Tabu mehr und bei der Nachrüstungsdebatte am 22. November 1983, als es um die Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in der Bundesrepublik ging, redeten grüne Abgeordnete wie Petra Kelly und Gerd Bastian Klartext. Zwar konnte die Stationierung von Cruise Missiles und Pershing II, die nur acht Minuten brauchten, um den millionenfachen Tod ins Moskauer Ziel zu transportieren, nicht verhindert werden, aber immerhin hatte die Friedensbewegung nun ein Bein im Parlament in Gestalt einer Partei, die immer wieder den Finger in die Wunde legte.

"Härte und Dialog"

Tempi passati.

Heute, fast vier Jahrzehnte später, sind die GRÜNEN längst mutiert zur Partei der flotten Lifestyle-Linken, sprich: jener besserverdienenden Lehrer*innen, Professor*innen und Medienleute (bis tief in die Springerpresse), die sich dem Rest der Gesellschaft bereits moralisch überlegen fühlen, wenn sie ihren Cappuccino mit geschäumter Mandelmilch zu sich nehmen. Die Friedensbewegten, falls es diese aussterbende Spezies noch geben sollte, sind weggeekelt, die GRÜNEN mit Karriereambitionen dagegen geben sich heute als stramme Transatlantiker, die nicht nur schon lange ihren Frieden mit der NATO und der von ihr geforderten neuen Aufrüstungspolitik gemacht haben, sondern diese, wie unlängst die theologische Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung – der vergewaltigte Namensgeber würde sich im Grabe umdrehen – vorbildlich demonstrierte, sogar als "lodernden Glutkern des Westens" anbeten. Demnächst werden sie sich auch noch für den klimaneutralen Atomkrieg einsetzen!

Diese Partei also steht jetzt vor ihrem größten Triumph, will sagen: kurz vor der Machtergreifung. Und es ist selbstverständlich eine Frau, die künftig die grünen Richtlinien der Politik des Landes bestimmen könnte.

Annalena Baerbocks Programm liest sich wie ein bunter Quelle-, pardon: Manufactum-Katalog, auf Umweltpapier. Die "Vitaminspritze für dieses Land" verspricht (fast) allen (fast) alles: Von der veganen Milchalternative über den "Transformationfonds" für die elektrische Zukunft der Autoindustrie über den "Green Culture Fonds" zur nachhaltigen Kulturproduktion, den "Entschädigungsfonds für Whistleblower*innen" und den "Wagniskapitalfonds" für weibliche Unternehmer bis zum sicheren Bleiberecht für bislang nur vorübergehend geduldete Migrant*innen wird alles aufgeboten, was das grüne Herz höher schlagen lässt. Kurz: Dem "klimagerechten Wohlstand" für alle, der Öko-Erhard lässt grüßen, steht demnächst nichts mehr entgegen!

Nur beim Thema Russland kennt die junge grüne Mutter kein Pardon. Da spricht sie forsch von "Härte und Dialog" – in dieser Reihenfolge. Damit fällt Frau Baerbock nicht etwa nur hinter das NATO-Konzept des Harmel-Berichts von 1967 zurück. Dort hieß es noch (und blieb auch so bis zum Ende des ersten Kalten Krieges) "Sicherheit und Entspannung". Nein, die sympathische Kandidatin der einstmaligen Partei der Friedensbewegung schafft es mit ihrer Formel aus dem Stand, sogar die aktuelle NATO-Konzeption – "Abschreckung und Dialog" – noch zu überbieten! Zu letzterer hatte bereits die ehemalige Russlandkorrespondentin der ARD, Gabriele Krone-Schmalz, in ihrem Buch "Eiszeit" geschrieben:

"Abschreckung ist ein aggressiver, Sicherheit ein defensiver Begriff. Dialog verkommt zur Leerformel, wenn man die Interessen des Gegenübers als illegitim betrachtet. Entspannung steht dagegen für ein Programm, für einen umfassenden politischen Ansatz. Der Qualitätsunterschied zwischen der Politik damals und heute ist allein in der Begrifflichkeit erkennbar."

Aber der grünen Kanzlerin-Kandidatin reicht, wie gesagt, selbst das nicht. Russland soll gefälligst die ganze "Härte" zu spüren bekommen – demnächst auch mit einer gemeinsamen europäischen Armee, die in der Lage ist, "robuste europäische Militäreinsätze" zu führen, mit "Gewehren, die schießen, und Nachtsichtgeräten, die funktionieren"! Man sieht: Pickelhaube und schnarrender Befehlston sind out. Der neue Militarismus kommt ökologisch, feminin und smart daher. Und, was Nord Stream 2 anbelangt, gibt es jetzt, Joe Biden und die amerikanische Flüssiggasindustrie werden sich freuen, Knüppel aus dem Sack!

Seltene Gefühle werden wach ...

Es gehört zu den vielen Unübersichtlichkeiten dieser Zeit, dass auch altvertraute Frontlinien immer mehr verschwimmen.

Vergleicht man nämlich den Kanzlerkandidaten der CDU/CSU mit seiner grünen Konkurrentin, so wirkt dieser bezogen auf das Verhältnis zu Russland auffallend pragmatisch. Laschet, der übrigens ebenfalls Völkerrecht studierte, vertritt nicht nur bei Nord Stream 2 die gegenteilige Position, er hat sich in den letzten Jahren auch immer wieder wohltuend sachlich für eine realistischere Russlandpolitik ausgesprochen. O-Ton des CDU-Kanzlerkandidaten: "Ich wünsche mir, dass wir nicht schwarz-weiß denken, sondern Gemeinsamkeiten herausarbeiten." Worauf er postwendend von Baerbock gesinnungsethisch abgewatscht wurde: Es habe sie "schon immer irritiert, dass Armin Laschet eher sehr freundliche Töne" in Richtung Moskau von sich gebe – gleichzeitig aber als "großer Europäer" gelten wolle.

Da kommt man schon ins Grübeln. Und es werden plötzlich – man wird ja extrem bescheiden – sehr seltene Gefühle wach ...

Sollte es heute etwa das kleinere Übel sein, die CDU zu wählen, um wenigstens Grün-Schwarz zu verhindern und Frau Baerbock samt ihrer Lifestyle-Partei zu verklaren, wer, falls es zum Äußersten kommt, in dieser Kombination Koch und wer Kellnerin zu sein hat? Die Kapriolen der ehemaligen Anti-Parteien-Partei der Friedensbewegten könnten einen am Ende fast dazu verleiten, das bis vor Kurzem noch Undenkbare zu tun ...

Dann würde das aktuelle Motto – der fassungslose Autor dieses Textes traut seinen eigenen Zeilen nicht recht – doch tatsächlich lauten:

"Aus Liebe zu den GRÜNEN – CDU wählen!"

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