An, mit, nach oder ohne Corona: Das Sterben in den Pflegeheimen

Vor allem in Pflegeheiemen wird mit Corona gestorben – trotz strengster Hygieneauflagen. Die Diakonie sucht dringend Helfer, akut fehlt Personal und der Ethikrat warnt vor krankmachender Isolation. Doch RKI und Bundesregierung setzen vor allem auf Tests und Kontaktbeschränkungen.
An, mit, nach oder ohne Corona: Das Sterben in den PflegeheimenQuelle: www.globallookpress.com © Bernd Thissen / dpa

Ein Gastbeitrag von Susan Bonath

Alten- und Pflegeheime sind meist die letzte Lebensstation. Doch wie Kliniken unterlagen sie in den letzten Jahren einem Trend hin zur Privatisierung. Große Pflegekonzerne wittern seit langem neue Profitquellen in diesem Bereich. Die Folgen waren lange vor Corona sichtbar: Personalabbau in großem Stil, unzumutbare Bedingungen für Beschäftigte und Bewohner, sich häufende Pflegeskandale. Mit Corona wird derzeit noch mehr gestorben in den Heimen als ohnehin. Die Empfehlung der Bundesregierung beschränkt sich indes weitgehend auf mehr Tests, mehr Quarantänen, strenge Besuchsregeln. Nun warnt der Ethikrat: Ein Mindestmaß an sozialen Kontakten müsse gewährleistet werden. Dies gebiete die Menschenwürde.

Die Mutter von Iris W. starb 94-jährig Anfang Juni in einem Krankenhaus. Zuvor im Pflegeheim hatte W. sie seit März nicht mehr besuchen dürfen. Auch in der Klinik herrschte Besuchsverbot. Als der Anruf kam, sie könne jetzt doch kommen, da die Mutter sterben werde, schaffte sie es nicht mehr rechtzeitig. "Bis heute kann ich das nicht verwinden", sagt sie im Gespräch mit der Autorin. Von Bekannten weiß sie, dass bis in den Sommer hinein Besuche in vielen Heimen nur hinter einer Plexiglasscheibe möglich waren. Derzeit gehe das wieder von vorne los, mahnte sie. Auf die nachvollziehbare Angst, sich Infektionen einzutragen, reagierten die Einrichtungen erneut mit Quarantäne und Abschottung. Doch W. ist überzeugt:

"Isolation, fehlende Therapien, mangelnde frische Luft lassen die Menschen auch sterben."

Bis zu 90 Prozent der Toten waren Pflegeheim-Bewohner

Dass sich insbesondere seit Herbst die allermeisten Todesfälle, die das Robert Koch-Institut (RKI) mit Corona in Verbindung bringt, in Pflegeheimen ereigneten, steht inzwischen fest. So geht etwa aus Daten, die das Gesundheitsministerium in Kiel vergangenen Freitag der Deutschen Presseagenturübermittelte, hervor: Zwischen dem 21. September und 14. Dezember starben in Schleswig-Holstein nach RKI-Angaben 134 Menschen an oder mit Corona. Davon lebten 119 Verstorbene zuvor in einem Pflegeheim, das sind fast 90 Prozent.

Ein ähnliches Bild ergibt sich in Hessen. Für den Zeitraum vom 2. bis 18. November meldete das RKI für das Bundesland insgesamt 272 Verstorbene, die zuvor positiv auf das neue Coronavirus getestet worden waren. Aus einer Statistik des Regierungspräsidiums Gießen geht hervor, dass davon 174 Menschen zuvor in Alten- und Pflegeheimen gelebt hatten. Das ist ein Anteil von rund zwei Dritteln. Im Frühjahr waren diesen Daten zufolge etwa 40 Prozent der Sterbefälle an oder mit Corona Heimbewohner.

Die Gesundheitsverwaltung der Hauptstadt Berlin wies am 15. Dezember insgesamt 899 Todesfälle an oder mit Corona seit März aus. Davon lebten 492 Menschen, 55 Prozent, in einem Pflegeheim. Allein vom 1. bis 15. Dezember starben demnach 305 Menschen mit einem positiven Corona-Test, von denen 268 in einer solchen Einrichtung lebten. Das sind 88 Prozent.

Übersterblichkeit beschränkt sich auf hoch Betagte

Das RKI weist die Todesfälle für Pflegeheimbewohner nicht gesondert aus, sondern erfasst sie zusammen mit denen in Asylbewerberheimen. Es geht aber insgesamt davon aus, dass fast alle unter dieser Rubrik geführten Verstorbenen in einem Pflegeheim gelebt hatten. Am Sonntag fanden sich dort insgesamt 7.564 Sterbefälle, knapp 200 mehr als am Samstag.

Die zweite Bevölkerungsgruppe, zu der die Toten laut Statistik gehörten, sind schwerkranke Dauerpatienten. Hier wuchs die Todeszahl binnen Tagesfrist um 19 auf 1.575 an. Deutlich wird aber auch: Weit mehr als 80 Prozent der positiv Getesteten aus diesen am stärksten betroffenen Gruppen sterben nicht.

Das Statistische Bundesamt gibt seit einiger Zeit wöchentlich eine Statistik heraus, in der die Gesamtsterbefälle erfasst sind. Allerdings beträgt der Zeitverzug vier Wochen. Die letzte am Freitag veröffentlichte Analyse endet mit der Kalenderwoche 47 vom 16. bis 22. November. Ein Vergleich mit der Kalenderwoche 47 des Jahres 2019 ergibt ein ähnliches Bild.

In der Altersgruppe null bis 40 Jahre starben in Woche 47 vorigen Jahres 268 Menschen, im gleichen Zeitraum dieses Jahres waren es 245 Menschen, 8,5 Prozent weniger. In der Altersgruppe 40 bis 65 stiegen die Todesfälle in dieser Woche ganz leicht von 2.289 im Jahr 2019 auf 2.311 in diesem Jahr. Insgesamt ergibt sich in der Altersgruppe der unter 65-Jährigen keine Übersterblichkeit gegenüber 2019.

Bei den Einwohnern über 65 Jahre verzeichnet das Statistische Bundesamt insgesamt einen Zuwachs der Todesfälle in den Kalenderwochen der beiden Jahre von 15.986 auf 17.044 – das ist ein Plus von insgesamt 6,6 Prozent. Den höchsten Zuwachs an Sterbezahlen gab es allerdings bei den 85- bis 90-Jährigen um elf Prozent. Während die Analyse für diese Woche im Jahr 2019 insgesamt 3.479 Verstorbene aufführt, sind es in diesem Jahr 3.861 Verstorbene.

Ethikrat fordert, Pflegebedürftige und Sterbende nicht allein zu lassen

Alena Buyx, Vorsitzende des Ethikrats, sagte am Freitag in Berlin bei der Vorstellung einer Empfehlung ihrer Organisation, die Pflegeheime seien ein "ethischer Brennpunkt". Ihre Bewohner hätten das höchste Risiko für eine tödliche Infektion, seien aber besonders hart von den Maßnahmen betroffen. Besonders drastisch wirke sich das Gebot der physischen Distanz aus. Sie verwies auf eine Neufassung im Infektionsschutz-Gesetz, wonach Heime trotz Besuchs- und Kontaktbeschränkungen ein Mindestmaß an sozialen Kontakten gewähren müssen.

Zwar könne damit einer Ansteckung entgegengewirkt werden, ergänzte Andreas Lob-Hüdepohl, Mitglied des Ethikrats. "Die Schattenseite physischer Distanz ist aber die Gefahr der Isolation, des Verlustes sozialer Teilhabe und letztlich der rapiden Verschlechterung des Gesundheitszustandes." Verletzt werde das Gebot der Selbstbestimmung. Das aber sei Ausdruck der Achtung der Menschenwürde. Betroffene müssten selbst entscheiden dürfen, welcher Person sie weiterhin nahe sein wollen, so Lob-Hüdepohl.

In seiner Empfehlung mahnt der Ethikrat weiterhin, wichtige Kontakte der Heimbewohner untereinander nicht gänzlich abzuschneiden. Auch Gruppenangebote zur Freizeitgestaltung seien wichtig für die psychosoziale Gesundheit der Betroffenen. Außerdem warnt das Gremium davor, Sterbende allein zu lassen. Die Begleitung in der letzten Lebensphase erfülle "eine wichtige Funktion mit Blick auf die allmähliche Loslösung vom Leben sowie von jenen Lebensbereichen, denen Betroffene sich besonders verbunden fühlten", so das Gremium. Ohne Begleitung werde der herannahende Tod viel stärker als Bedrohung erlebt. Angehörige hätten in der Folge neben der Trauer zusätzlich häufig mit Schuldgefühlen zu kämpfen. 

Freiheitsentzug, Mangelversorgung: Desaströse Zustände seit Jahren

Ein Problem ist das Umsetzen aller vorgeschriebenen Maßnahmen mit viel zu wenig Personal. Viele Mitarbeiter sind immer wieder meist als Kontaktpersonen in Quarantäne. Die Diakonie Mitteldeutschland startete am Sonntag einen Hilferuf. Der Kirchenverband, der viele Heime betreibt, sucht dringend Helfer für Einrichtungen in Thüringen. Unter dem Motto "Kümmern statt klatschen" wirbt sie gemeinsam mit ihrer Mutterkirche um Menschen, die einen sozialen Beruf erlernt oder Hygieneprüfungen aus der Gastronomie bereits hinter sich haben. Sie sollen das überlastete Pflegepersonal unterstützen.

Die desaströse Situation in den Heimen war derweil lange vor Corona bekannt. Die Deutsche Hospizstiftung beklagte schon 2012, dass 42 Prozent der Bewohner von Heimen unter freiheitsentziehenden Maßnahmen litten. Sie würden zum Beispiel an Betten fixiert oder mit Gittern festgehalten. Jeder dritte Heimbewohner sei einem früheren Bericht zufolge nur mangelhaft mit Flüssigkeit und Nahrung versorgt.

Unabhängig von Corona sterben immer mehr Menschen in Heimen

Eine 2015 unter anderem im Ärzteblatt vorgestellte Studie besagt darüber hinaus, dass immer weniger Menschen zu Hause sterben. Im Jahr 2011 waren das weniger als ein Viertel. Die Hälfte aller Sterbenden durchlebte diese Phase im Krankenhaus, knapp fünf Prozent im Hospiz, und fast ein Fünftel, Tendenz steigend, in einem Pflegeheim. Demnach müsste es bei bundesweit 2.300 bis 3.000 Todesfällen insgesamt pro Tag bereits vor knapp zehn Jahren täglich rund 450 bis 600 Todesfälle in Altenheimen gegeben haben.

Die Zahl der Pflegebedürftigen insgesamt wuchs von 2001 bis 2017 von gut zwei Millionen auf mehr als 3,4 Millionen an. Die meisten Betroffenen werden zu Hause gepflegt, gut 800.000 Menschen lebten Ende 2017 in Heimen, Tendenz steigend.

Die knappe Personallage habe auch Iris W. mitbekommen und "sehr darunter gelitten". Zwei Jahre lang sei ihre Mutter ein Schwerstpflegefall gewesen. "Nur durch meine Besuche kam sie überhaupt ab und zu raus", blickte sie zurück und ergänzte:

"Die hatten gar nicht genug Leute für Spaziergänge."

Manche Bewohner hätten den ganzen Tag in ihren Rollstühlen am Fenster sitzen, andere allein im Bett liegen müssen. "Warum die Politik nicht spätestens zu Beginn der Pandemie Ausbildungs- und Anwerbe-Offensiven inklusive massiver Lohnerhöhungen in die Wege geleitet hat, erschließt sich mir nicht", sagte sie.

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