Russland

Wo könnte eine russische Offensive zu erwarten sein?

In den vergangenen Tagen haben russische Streitkräfte mehrere Versuche der Ukrainer zum Vorstoß an allen Frontabschnitten erfolgreich abgewehrt und im Gebiet Charkow lokal einen Erfolg verbuchen können. Wann und wo könnten russische Truppen demnächst in die Offensive gehen? Eine Analyse.
Wo könnte eine russische Offensive zu erwarten sein?Quelle: Sputnik © Verteidigungsministerium der Russischen Föderation

Von Ainura Alijewa

Ohne die Ankunft der Reservisten abzuwarten, die noch im Hinterland ausgebildet werden, haben die russischen Streitkräfte das Dorf (Worobjowka/Gorobjowka) am Frontabschnitt bei Kupjansk unter ihre Kontrolle gebracht. Möglicherweise kündigt dieser taktische Erfolg eine größere Offensive an. Offensichtlich wird sich mit der Ankunft der Reservisten das Kräfteverhältnis ändern, eine neue russische Offensive kann dann erwartet werden. Wo liegen die verwundbarsten Frontabschnitte seitens der ukrainischen Streitkräfte?

Die Streitkräfte Russlands haben im Rahmen ihrer Offensive im Gebiet Charkow am Frontabschnitt bei Kupjansk das Dorf Worobjowka/Gorobjowka eingenommen. Dabei brachten sie den Verbänden der 1. Operationsbrigade der ukrainischen Nationalgarde eine empfindliche Niederlage bei, wie der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums Generalleutnant Igor Konaschenkow am Dienstag mitteilte.

Darüber hinaus sei nahe dem Dorf Kislowka im Gebiet Charkow der Versuch eines Vorstoßes einer mit Panzern verstärkten ukrainischen Kampfgruppe in Kompaniestärke vereitelt worden, fügte der Sprecher hinzu. Nach seinen Angaben verlor der Gegner innerhalb eines Tages am Frontabschnitt bei Kupjansk mehr als 60 Soldaten, einen Panzer, drei gepanzerte Kampffahrzeuge und zwei mit Maschinengewehren aufgerüstete Pick-ups, englischsprachig auch Technicals genannt.

Am benachbarten Frontabschnitt bei der Stadt Krasny Liman, jüngst wieder vom ukrainischen Militär besetzt, wurden in der Nähe der Dörfer Stelmachowka und Rosowka der LVR und der Dörfer Karpowka und Iwanowka der DVR die gegnerischen Versuche vereitelt, den Fluss Scherebez zu überqueren, berichtete Konaschenkow. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums wurden dort 46 ukrainische Militärangehörige getötet sowie zwei Schützenpanzer, sechs gepanzerte Kampffahrzeuge und ebenfalls zwei bewaffnete Pick-ups zerstört.

Der stellvertretende Leiter der Abteilung für eurasische Integration und Entwicklung der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit am Institut für GUS-Länder, Oberst der Reserve Wladimir Jewsejew, hält die Einnahme von Worobjowka nicht für das Vorzeichen einer großen Offensive. Er mahnte dennoch: "Nach meinen Vermutungen handelt es sich eher um eine Verbesserung unserer taktischen Lage, nämlich um die Einnahme eines Teils der 'Grauen Zone', als um die Befreiung eines von ukrainischen Truppen besetzten Ortes. Ja, die taktische Position unserer Streitkräfte verbessert sich, doch es ist viel zu früh, von einer Befreiung des Gebiets Charkow oder einer vollständigen Befreiung der LVR zu sprechen." Jewsejew vermutet vielmehr:

"Das größte 'Spannungsfeld' bleibt der Ballungsraum von Artjomowsk (Bachmut)."

Als Militärexperte führte Jewsejew dazu aus: "Die Befreiung von Artjomowsk und der benachbarten Stadt Soledar wird fortgesetzt. Danach ist ein Rückzug des Gegners aus Sewersk wahrscheinlich, sonst wird diese Stadt eingekesselt. Das wird uns ermöglichen, zur letzten ukrainischen Verteidigungslinie im Donbass zu kommen – nach Kramatorsk, Slawjansk und Konstantinowka. Dabei wird es nötig sein, eine Reihe von gegnerischen Kampfverbänden, darunter diejenigen in Ugledar und Awdejewka, zu zerschlagen."

Der Militärexperte Michail Onufrijenko vertritt dagegen die Ansicht, dass die Einnahme von Worobjowka eine Offensive an diesem Frontabschnitt einleitet. Er erklärte: "Dieses Dorf befindet sich am linken, östlichen Ufer des Flusses Oskol, deswegen sehen wir den Teil einer begrenzten Offensive. Ihr Ziel ist es, den Gegner vom östlichen Ufer des Oskol zu vertreiben und dort eine langfristige Verteidigungslinie einzurichten."

Nach Meinung des Experten werden von der russischen Grenze bis Krasny Liman entlang dem Ufer des Sewerski Donez langfristig gedachte Betonbefestigungen, darunter Bunker errichtet. Diese Verteidigungslinie werde für mehrere Monate angelegt: "Genau deswegen besteht die Aufgabe, die ukrainischen Streitkräfte vom linken Ufer möglichst zu vertreiben." Nach Onufrijenkos Angaben errichtet der Gegner langfristige Verteidigungslinien nicht im Gebiet Charkow, sondern am Frontabschnitt bei Nikopol, von Seiten der Stadt Kriwoi Rog. Der Experte schätzt ein:

"Der Gegner ist wahrscheinlich überzeugt, dass unsere Großoffensive am rechten Dnjepr-Ufer zur Befreiung von Saporoschje vorbereitet werde."

Allerdings bedeute dies, dass die russische Armee an einem anderen Ort, "wo es niemand erwartet", angreifen müsse. Das könne das jüngst verlassene Gebiet Charkow werden, vermutet Onufrijenko.

Der Absolvent der französischen Akademie für Diplomatie und Militärexperte Alexandr Artamonow glaubt, dass die Schlacht um Artjomowsk für die russische Armee am wichtigsten bleibt. In nächster Zeit könne der dortige Truppenverband verstärkt werden, um die Frontlinie zu verschieben und die ukrainische Garnison im ukrainischen Awdejewka von der Versorgung abzuschneiden. Artamonow zufolge ist es unbedingt notwendig, das Dorf Wodjanoje einzunehmen, weil das den Beschuss von ganz Awdejewka ermöglichen würde. Er führte aus:

"Was die weiter nördlich gelegenen Gebiete angeht, so muss für die ukrainischen Streitkräfte der Flusslauf des Oskol zum 'Spannungsfeld' werden. Wir halten jetzt die Stellung zwischen den Städten Kremennaja und Swatowo, errichten dort Befestigungen entlang der 'Straße des Lebens' von Swatowo nach Krasny Liman. Es ist dringend nötig, hier die Frontlinie zu verschieben. Sollten ukrainische Truppen die Straße abschneiden, würde das zu sehr großen Versorgungsproblemen für alle unsere Streitkräfte in diesem Gebiet führen."

Der Experte hob besonders die Anstrengungen der Kosaken-Brigaden hervor, die sich "buchstäblich Meter um Meter vorkämpfen, um Liman zurückzuerobern". Artamonow ist überzeugt:

"Wir müssen Liman möglichst schnell zurückholen, das ist vor allem eine moralisch-politische Pflicht."

Jewsejew vermutet diesbezüglich, dass es nach der Ankunft von frischen Verbänden, die im Rahmen der Mobilmachung verstärkt wurden, in etwa einem Monat zu einer Wende an der Front im Gebiet Charkow kommen werde. Er erklärte:

"Es wird genug Kräfte geben, um die ukrainischen Truppen nicht nur zu verdrängen, sondern auch einzukesseln. Darüber hinaus werden wir auch an einem anderen Frontabschnitt, bei Nikolajew, zur Offensive übergehen können."

Jewsejew schloss außerdem nicht aus, dass Russland bereits im November versuchen werde, von weißrussischem Gebiet aus vorzustoßen, wie es schon zu Beginn der Spezialoperation der Fall war. Nicht umsonst hatte der Präsident Weißrusslands Alexandr Lukaschenko am 10. Oktober die Aufstellung eines gemeinsamen Streitkräfteverbands in seinem Land angekündigt.

Indessen hatte der Befehlshaber des vereinigten Streitkräfteverbands im Gebiet des Spezialoperation, Armeegeneral Sergei Surowikin am Dienstag erklärt, dass die täglichen Verluste des ukrainischen Militärs an Toten und Verwundeten zwischen 600 und 1.000 Mann betragen. Trotzdem versuche der Gegner derzeit weiterhin, die Stellungen der russischen Streitkräfte an Frontabschnitten bei Kupjansk, Krasny Liman, und Nikolajew sowie Kriwoi Rog anzugreifen.

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Übersetzt aus dem Russischen

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