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Hegemon zeigt Schwäche: Washington muss sich vor "Bösewichtern" erniedrigen

Die ausbleibende Verurteilung Russlands in der Abschlusserklärung der G20 ist nicht nur eine Niederlage der US-Diplomatie, sondern auch ein Zeichen des Wandels der globalen Kräfteverhältnisse. Washington kann es sich immer weniger leisten, die Weltgemeinschaft zu erpressen.
Hegemon zeigt Schwäche: Washington muss sich vor "Bösewichtern" erniedrigenQuelle: AFP © Money SHARMA

Von Wiktorija Nikiforowa

Kaum war die Deklaration der G20 in Neu-Delhi verabschiedet, wurde in den USA Kritik daran laut. Wie kam es dazu, dass in der Abschlusserklärung – dem "Heiligen Gral" der G20 – keine Ausfälle gegen Russland vorkamen, und die Causa Ukraine nur äußerst verhalten erwähnt wird? Was taten die US-Delegaten und warum schafften sie es nicht einmal in den 200 Stunden, in denen die Ukraine-Frage besprochen wurde, Washingtons antirussische Position durchzuboxen?

In dem Dokument sind weder eine Verurteilung Russlands noch Aufrufe zum Rückzug russischer Truppen zu finden – lediglich Allgemeinplätze über die Notwendigkeit, die territoriale Integrität zu respektieren. Diese können aber durchaus auch so interpretiert werden, dass es an der Ukraine sei, Russlands territoriale Integrität in Bezug auf die Krim und die neuen Regionen zu respektieren.

US-Diplomaten versuchten, sich zu rechtfertigen: Aus ihrer Sicht sei die Deklaration "gut". Ihre britischen Kollegen entfernten sich indessen von der Realität so weit, dass sie der Zeitung Politico mitteilten, dass die Deklaration Putin zwingen werde, Truppen abzuziehen und Territorien an die Ukraine zurückzugeben. Europäische Beamte murrten, dass, wenn sie das Dokument selbst verfasst hätten, alles ganz anders gekommen wäre. Doch hier sei ein Konsens notwendig gewesen, deswegen möge das Publikum Verständnis aufbringen.

Diese lahme Rhetorik kann nicht über eine offensichtliche Tatsache hinwegtäuschen: Beim G20-Gipfel setzte sich in Bezug auf die Causa Ukraine die konsolidierte Meinung der BRICS-Mitgliedsstaaten und der sich ihnen anschließenden Vertreter des Globalen Südens durch. Gerade sie wurde in der Abschlusserklärung reflektiert.

Der kollektive Westen war gezwungen, diese Entscheidung der nichtwestlichen Mehrheit bescheiden hinzunehmen. Das ist nicht nur ein diplomatischer Sieg Russlands – auch wenn den russischen Diplomaten zweifellos Anerkennung gebührt –, sondern auch eine Widerspiegelung der realen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kräfteverhältnisse.

Vor einem Vierteljahrhundert waren die G20 als eine Art Anhängsel zu den G7 entstanden. Ende der 1990er-Jahre trieb die Weltwirtschaftskrise Milliarden Menschen in den Ländern des Globalen Südens und des postsowjetischen Raums in die Armut, während sich die G7 daran bereicherten. Da entstand die Idee, die Lösung wirtschaftlicher Probleme mit den Entwicklungsländern zu besprechen. Vorgesehen war, dass die Granden der G7 Predigten halten, während ihnen alle anderen ehrfurchtsvoll zuhören und ihre Anweisungen befolgen.

Heute vollzogen die Beziehungen innerhalb der G20 eine Wendung um 180 Grad. Die BRICS-Länder überholten die G7 im Anteil am weltweiten BIP und befinden sich wirtschaftlich, sozial und militärisch im Aufstieg. Die westlichen Staaten erleben einen Niedergang – natürlich verlieren sie damit auch diplomatische Druckmittel.

US-Journalisten machen keinen Hehl aus ihrem Ärger darüber, dass beim Gipfel in Neu-Delhi Narendra Modi das Solo spielte, während sich der US-Präsident im Hintergrund umhertrieb und nur selten zu Fototerminen erschien.

Der Großteil der beim Gipfeltreffen angenommenen Beschlüsse widerspricht offen Washingtons Interessen und vernichtet die Reste seiner Hegemonie. Die Idee, die Welthandelsorganisation zu reformieren, zielt auf die Säuberung der Organisation von US-amerikanischem Einfluss ab. Es ist schließlich undenkbar, dass eine angeblich neutrale internationale Organisation vor offenen Verletzungen des Freihandelsprinzips durch die USA und die EU die Augen verschließt.

Der neue Transportkorridor von Indien nach Europa wird die USA aus den Beziehungen zwischen der EU und Bharat zurückdrängen. Die Einladung der Afrikanischen Union zu den G20 wird es Washington nur noch weiter erschweren, seine Kontrahenten durch Boykotte und Sanktionen zu erpressen. Der ehemalige Hegemon bemühte sich so sehr, Russland und China zu Ausgestoßenen zu machen, dass er selbst begann, sich in einen Ausgestoßenen zu verwandeln, ohne es zu merken.

Journalisten der europäischen Zeitung Politico bemerkten mit verhaltener Schadenfreude, dass der US-Präsident gezwungen war, sich beim Gipfeltreffen mit den "Bösewichtern" der Weltpolitik zu unterhalten. Im liberalen Neusprech werden so der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan und der saudische Staatschef Mohammed bin Salman genannt. Zuvor war selbst Indiens Ministerpräsident bei den "Bösewichtern" eingeordnet worden: einflussreiche US-Medien bezeichneten Narendra Modi als "rechtsextremen Autokraten", und das US-Außenministerium erteilte ihm kein Visum.

Doch diese Zeiten sind vorbei. Nun muss sich der US-Präsident bei den "Bösewichtern" einschmeicheln. Europäische Beobachter machten das Publikum darauf aufmerksam, dass Biden, der sich zuvor geweigert hatte, Mohammed bin Salman die Hand zu geben (vor einem Jahr stießen sie bei einem Treffen nur die Fäuste zusammen), in Neu-Delhi gezwungen war, dem saudischen Prinzen öffentlich die Hand zu schütteln. Und dass es Narendra Modi selbst war, der als Gastgeber diesen Handschlag besiegelte.

Dabei beehrten die beiden schlimmsten "Bösewichter" der Gegenwart – Wladimir Putin und Xi Jinping – den Gipfel nicht einmal durch ihre Abwesenheit. Doch selbst in Bezug auf sie erklang keinerlei Kritik. Der US-Präsident vergaß scheinbar alle seine Drohungen und Beleidigungen und benahm sich überraschend friedlich. Er kommentierte nicht einmal die am Rande des Gipfels kursierenden Gerüchte darüber, dass Chinas Regierung die Durchführung des G20-Gipfels im Jahr 2026 in den USA nicht begrüße.

In Bezug auf den chinesischen Staatschef gelang es, aus Biden gerade einmal drei Worte herauszupressen. "Es wäre nett", sagte er und meinte dabei, dass er sich freuen würde, wenn Xi Jinping zum Gipfel in Neu-Delhi erscheinen könnte. Das war's – keine langen Reden über die angebliche "Unterdrückung der Uiguren", keine Provokationen in Bezug auf Taiwan.

Bidens Berater Jake Sullivan antwortete indessen schroff auf die Fragen der Journalisten, warum er beim Staatschef von Indien keine Einsprüche zu Themen des Rechtsschutzes erhebe, dass er am Gipfel nicht dazu teilnehme, um "Strafzettel zu verteilen".

Doch gerade das taten die US-Beamten jahrzehntelang auf der internationalen Bühne – sie verteilten Strafzettel an ungehorsame Länder, warfen unabhängigen Staatschefs alle möglichen Sünden vor und erpressten mithilfe ihrer gezähmten Medien und Nichtregierungsorganisationen jeden souveränen Politiker. In Neu-Delhi ging diese Maschinerie der Abschreckung zu Bruch, und zwar vor aller Augen. Selbst Washingtons europäische Vasallen kamen nicht umhin zu bemerken, dass der Hegemon Schwäche zeigte. Vermutlich werden sie ihre Schlüsse daraus ziehen.

Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei RIA Nowosti.

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