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National Interest: Es gibt für Russland keinen Grund, einem Einfrieren zuzustimmen

In den vergangenen Monaten hat sich dieser Gedanke als möglicher Ausweg aus dem Projekt Ukraine durch die US-Debatte gearbeitet: machen wir es wie damals in Korea. Einfrieren und vielleicht später wieder anfangen. Nun gibt es einen ersten Aufsatz, der einen realistischen Blick wagt.
National Interest: Es gibt für Russland keinen Grund, einem Einfrieren zuzustimmen© Edward N. Johnson, U.S. Army Public Affairs Officer, Public domain, via Wikimedia Commons

Von Dagmar Henn

Wenn man die Berichterstattung deutscher Medien und die Aussagen deutscher Politiker zur Ukraine betrachtet, kann man keinen Grund zur Hoffnung finden. Darstellung und Reaktion darauf sind hoffnungslos von der Realität entkoppelt und entwickeln sich mehr und mehr zur Märchenstunde.

So machte die deutsche Presse aus der Überquerung des Dnjepr durch bestenfalls einige hundert ukrainische Soldaten gleich "Ukraine errichtet Brückenkopf jenseits des Dnjepr" (SZ), durch den die russischen Streitkräfte "mehrere Kilometer zurückgedrängt" worden seien. Mit Berufung auf den britischen Geheimdienst wird aus dem verlustreichen Versuch, sich in einem menschenleeren Dorf festzusetzen, ein großer Erfolg gezimmert. Dabei ist schon die Verwendung des Begriffs "Brückenkopf" eine Täuschung. Denn zu einem echten Brückenkopf gehört eine Brücke; die Ukraine hat aber offenkundig gar nicht das Personal und die nötige Ausstattung, um nachzusetzen, beispielsweise eine Pontonbrücke zu errichten, über die dann auch schweres Gerät kommen könnte.

Die Frankfurter Rundschau fantasiert, ukrainische Zahlen wiedergebend, von "immensen Verlusten für Russland", und ntv zimmert sich "ukrainische Vorstöße beunruhigen – Moskau versucht offenbar "Hysterie" einzudämmen" zurecht; als ginge es um Vorstöße in der Nähe Moskaus. Wer sich diesen Medien anvertraut, erhält ein Bild, das sich immer weiter auf das Gegenteil der Wirklichkeit zubewegt. Das Realistischste, was deutsche Medien in den letzten Tagen lieferten, war ein Bericht über eine Mäuseplage in den Schützengräben.

Die politischen Reaktionen bewegen sich auf der gleichen Ebene. Nicht nur, dass Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius gerade erst wieder den olivgrünen Geßlerhut in Kiew gegrüßt hat und bei der Gelegenheit eine weitere Milliarde deutscher Steuergelder vorbeibrachte, während daheim gerade darüber spekuliert wird, Renten zu kürzen, um die Budgetlöcher zu stopfen. Nein, selbst das genügt nicht, und gleich mehrere Haushaltspolitiker melden sich zu Wort, um zu verhindern, dass die Waffenlieferungen an die Ukraine auf der Kürzungsliste landen. So der CDU-Haushaltspolitiker Ingo Gädechens im Tagesspiegel:

"Sollte jetzt im Rahmen allgemeiner Einsparungen auch die Ukraine-Hilfe eingedampft werden, hätte das katastrophale Folgen."

Ins gleiche Horn blies, nicht überraschend, Sebastian Schäfer, sein Kollege von den Grünen:

"Trotz einer schwierigen Haushaltslage gilt es, die umfassende Unterstützung für die Ukraine fortzusetzen und weiter zu stärken."

Wer also erwartet, dass sich im Verlauf der Zeit doch irgendwie eine realistischere Sicht durchsetzen könnte, wird weiter enttäuscht, zumindest in Deutschland. In anderen westlichen Ländern ist die Lage nicht besser – außer in den Vereinigten Staaten. Dort gab es in den letzten Wochen zunehmend nicht nur Berichte, die das tatsächliche Elend zumindest andeuteten, es gab auch eine ganze Reihe von Aufsätzen, die sich mit der Frage befassten, wie mit dieser Lage umgegangen werden könnte. Diese Debatte, die im Grunde bereits im Frühjahr mit einem Text der RAND-Corporation begann, findet überwiegend in den drei großen außenpolitischen Zeitschriften der Vereinigten Staaten statt, in Foreign AffairsForeign Policy und The National Interest.

In letzterer ist nun erstmalig ein Text erschienen, der nicht nur einen nüchternen Blick auf die militärischen Realitäten aufweist, sondern auch zu Vorschlägen kommt, die eine tatsächlich realistische Politik darstellen. Der Autor, Matthew Blackburn, macht seine Ablehnung der Einschätzung eines Patts, das bisher auch in den USA das Maximum in der Annäherung an die Wirklichkeit war, schon in der Überschrift deutlich: "Ukrainekrieg: Ein Patt verkaufen und den Schmerz verlängern".

Er diskutiert die "koreanische Variante", die in den bisherigen Debattenbeiträgen favorisiert wurde. Ein Einfrieren des Konflikts, mit der Möglichkeit, die Ukraine ein weiteres Mal aufzurüsten. Voraussetzung für dieses Einfrieren – das mit der Grenze zwischen Süd- und Nordkorea bis heute andauert – seien mehrere Faktoren gewesen.

Zum einen ein tatsächliches militärisches Patt. Dann aber auch die Übereinstimmung der beteiligten Großmächte, China, der UdSSR und der Vereinigten Staaten, dass ein Ende des Krieges in ihrer aller Interesse sei. Dennoch hätten die Verhandlungen bei Fortsetzung der Kriegshandlungen noch achtzehn Monate gedauert, weil erst die Wahl von Präsident Eisenhower den erforderlichen Gefangenenaustausch ohne ideologische Forderungen möglich gemacht hätte.

Und dann kommt der spannende Teil. Alle drei Voraussetzungen träfen auf die Ukraine nicht zu.

"Erstens, es ist ein Irrtum, den Krieg allein auf Grundlage der Beobachtung, dass wenig Gebiet die Hände wechselt, als Patt zu bezeichnen. In einem Abnutzungskrieg besteht das Ziel darin, den Gegner zu erschöpfen und ihn zum Annehmen von Bedingungen zu zwingen."

Während die Ukraine eine erfolglose Offensive hinter sich habe, mit hohen Verlusten an Menschen und Material, und die westlichen Unterstützer damit kämpften, weitere Munition und Ausrüstung heranzuschaffen, liefe die russische Rüstungsproduktion auf Hochtouren, und auch die angeblich enormen russischen Verluste gäbe es mitnichten. "Die russischen Verluste, die oft wüst übertrieben werden, betragen laut Mediazona, die die Zahl auf Grundlage öffentlich erhältlicher Daten ermittelten, mindestens 35.780." (Nebenbei, das ist ein Zehntel dessen, was die FR so gläubig übernahm). Seit Januar 2023 seien mindestens 335.000 Freiwillige in die russische Armee eingetreten, und die russische Wirtschaft brumme.

"Seine [Russlands] augenblickliche Operation in Awdejewka erinnert an die Schlacht von Bachmut, ein russischer Sieg, der im Westen wenig Aufmerksamkeit erhielt, aber als Modell für sein langsames, zermalmendes, aber erfolgreiches Vorgehen im Abnutzungskrieg dient."

Und er kommt zu einem sehr deutlichen Schluss, auch wenn er die wahrscheinlichste Möglichkeit einer vollständigen ukrainischen Niederlage nur andeutet:

"Tatsächlich könnte schon bald ein neues Niveau der NATO-Beteiligung nötig sein, um ein Patt zu sichern und eine ukrainische Niederlage abzuwenden. Jetzt darf jeder raten, wie lange sich die Ukraine noch hält und welche Handlungen die NATO unternehmen könnte, um zu helfen. Bei dieser Dynamik gibt es für Russland überhaupt keinen Anreiz, einer Waffenruhe zuzustimmen, die nur seine ganze militärische Strategie untergraben und der Ukraine Zeit geben würde, sich zu erholen und auf einen Kampf zu einem anderen Zeitpunkt vorzubereiten."

Im Gegensatz zum Koreakrieg seien die anderen beteiligten Großmächte, Russland und China, auch nicht an einem Ende interessiert; der Westen könne zwar Druck auf Kiew ausüben, Verhandlungen aufzunehmen, aber dem werde sich Kiew vermutlich widersetzen. Mangels der Beteiligung eigener Truppen seien die Möglichkeiten, solchen Druck zu erzeugen, geringer als damals gegenüber Südkorea.

"Daher scheint Russland bereit, jahrelang weiterzukämpfen, bis es eine direkte Verbindung nach Washington oder den Zusammenbruch des ukrainischen Staates erreicht hat."

Das klingt völlig anders als die unterschiedlichen Fantasien, mit einzelnen Zugeständnissen die Front nach dem koreanischen oder gar dem deutschen Modell in eine feste Grenze zu verwandeln. Blackburn tut zudem etwas, was die meisten seiner westlichen Kollegen bisher verweigern: Er nimmt die erklärten russischen Ziele beim Wort und ersetzt sie nicht durch irgendwelche Fantasieprodukte vom Streben nach einem russischen Reich oder gar der Weltherrschaft.

Sicherheitsgarantien für die Ukraine müssten mit den russischen Forderungen nach Demilitarisierung und Neutralität kompatibel sein. Die Verhandlungen im März 2022 hätten bestätigt, dass das für Russland die zentralen Punkte seien.

Den ideologischen Eifer zu verringern, was selbst in Korea eines der Probleme gewesen sei, sei ebenfalls schwierig. Die westliche Forderung, Mitglieder der russischen Regierung wegen Kriegsverbrechen anzuklagen und das Einfrieren russischen Vermögens wären beispielsweise das ideologische Gepäck, das jede Verhandlung erschwere.

"Die amerikanischen Präsidentschaftswahlen könnten der entscheidende Faktor sein, da die Partei der Demokraten an diesem Punkt weit wahrscheinlicher eine ideologische Position einnimmt."

Da die Voraussetzungen für einen Waffenstillstand und Verhandlungen mit dem Ziel eines Einfrierens nicht gegeben seien, sei eine weitere Eskalation wahrscheinlich, was die Ukraine zu einer weiteren Mobilisierung zwinge, Russland aber nicht notwendigerweise.

"Der Spitzengeneral der Ukraine, Waleri Saluschny, hat zugegeben, dass es für Russland desto besser ist, je länger der Krieg andauert. Putin ist pragmatisch, aber er wird seine fundamentalen Interessen nicht verraten, wenn die militärische Dynamik zu Russlands Gunsten ist. Und es gibt wenig Grund, zu erwarten, dass irgendjemand im politischen System Russlands eine radikal andere Position vertritt. Jede Regelung in der Ukraine, die damit endet, sie durch die NATO zu bewaffnen und in diese zu integrieren, ist für den russischen Sicherheitsstaat und das Militär völlig unannehmbar – aber auch für Dutzende Millionen, die innerhalb Russlands den Krieg klar unterstützen."

Wenn man an die unzähligen Male denkt, an denen man vom bevorstehenden Zusammenbruch von "Putins Regime" lesen musste, wenn man bedenkt, wie unerbittlich die russische Position bereits seit Dezember 2021, als sie eindeutig und klar auf den Tisch gelegt wurde, nur verzerrt oder gar nicht dargestellt wurde, ist es äußerst erfrischend, solche Sätze zu lesen. Auch, wenn die Sicht, die dieser Aufsatz darlegt, wenig bis keinen Einfluss auf Wahrnehmung und Handeln der Biden-Regierung haben dürfte, zumindest belegt er, dass in den USA die Vernunft noch nicht völlig an den Rand gedrängt wurde. Das macht Hoffnung, dass die politische Debatte noch über die "Patt"-Version hinausdringt.

Man müsse, so Blackburn, sofort Verhandlungen aufnehmen, auch wenn ein Ergebnis noch weit entfernt sein könnte.

"Auch wenn viele Stimmen solche Verhandlungen Appeasement oder Verrat schimpfen werden, muss dieser Prozess begonnen werden, um die schwierigen Punkte zu klären und auszuarbeiten, wie die Ziele jeder Seite untergebracht werden können. Ein zerbrechlicher und mangelhafter Waffenstillstand – insbesondere einer wie in Korea, der siebzig Jahre gehalten hat – ist einer zunehmenden Destabilisierung Osteuropas und weiterer Zerstörung, weiterem Tod in der Ukraine vorzuziehen."

Blackburns Aufsatz ist der erste Text außerhalb relativ verborgener militärischer Darstellungen, der im westlichen Mainstream einen umfassend realistischen Blick auf den Stand des Konflikts wirft und daraus die erforderlichen politischen Schlussfolgerungen zieht. Was augenblicklich wenig ändern dürfte; im Fall eines Regierungswechsels im kommenden Jahr könnten aber Positionen aus dem eher konservativen National Interest größeres Gewicht erhalten.

Als Bremsklotz könnten sich dann ausgerechnet die Europäer erweisen, die von Blackburns Erkenntnissen noch weit entfernt sind. Dabei ist es heutzutage problemlos möglich, diesen englischsprachigen Aufsatz durch einen elektronischen Übersetzer zu schicken, um nicht völlig in jenem Dickicht aus Ahnungslosigkeit und Übertreibung gefangen zu sein, das in den deutschen Medien wuchert. Aber Erwartungen, dass wenigstens diese Gedanken aus einer der drei großen außenpolitischen Zeitschriften der USA ihren Weg bis in die deutsche Regierung finden, sind vermutlich völlig verfehlt.

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