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Wettrüsten im All kann Russland zur Strategie des nuklearen Erstschlages bewegen – Experte

Der erfahrene russische Diplomat Wiktor Mizin hat in den 1980er-Jahren mit den US-Amerikanern in zähen Gesprächen die wichtigsten Abrüstungsverträge ausgehandelt. Der renommierte Experte schätzt die Kriegsgefahr heute als größer ein als zu Zeiten des Kalten Krieges.
Wettrüsten im All kann Russland zur Strategie des nuklearen Erstschlages bewegen – Experte© Wadim Lukaschewitsch

Nach Berlin kam Wiktor Mizin Mitte Dezember aus Genf, wo er an einer internationalen Sicherheitskonferenz zu Ultraschallwaffen teilnahm. Die Teilnahme an solchen Konferenzen ist seit 40 Jahren für den Ex-Diplomaten tägliches Geschäft. In den 1980er- und 1990er-Jahren verhandelte er mit den US-Amerikanern bei den START-, den INF- und den ABM-Verträgen und war bei der UN-Abrüstungskommission beratend tätig. "Rüstungskontrolle, Nichtverbreitung der Nuklearwaffen, Kontrolle über Waffenexport, Weltraumstudien sowie Globale Sicherheit" gehören laut dem Steckbrief der Heinrich-Böll-Stiftung zu seinem Profil. Im Jahr 2017 veröffentlichte sie auf ihrer Webseite sein Papier "Die Beziehungen zwischen der EU und Russland aus russischer Sicht". 

In Berlin nahm der führende Experte des Instituts für Internationale Beziehungen bei der MGIMO an der Podiumsdiskussion "Ende des Kalten Krieges und neue Weltordnung? Fragen zum Rückzug sowjetischer Truppen nach 1989/90" teil. Als wir Mizin nach seinem Plädoyer für eine neue Entspannungspolitik um ein Interview bitten, sagt er sofort zu. Für das Gespräch schlägt er allerdings einen besonderen Ort vor – den Saal, in dem die bedingungslose Kapitulation Nazi-Deutschlands in Berlin am 8. Mai 1945 unterzeichnet wurde. 

In den 1980er-Jahren waren Sie an Abrüstungsverhandlungen mit den US-Amerikanern beteiligt. Warum sind Sie der Ansicht, dass die Lage jetzt noch schlechter ist als zur Zeit des Kalten Krieges? Einmal erzählten sie, dass in den Regierungskreisen der UdSSR echte Panik ausgebrochen ist, als Reagan sein Sternenkrieg-Programm verkündete.

Nun, das US-Programm Strategic Defense Initiative (auch Star Wars-Programm genannt) wurde in der Tat zum Alpdruck für die sowjetische Führung, für Generalsekretär Andropow – obwohl es sich im Nachhinein herausstellte, dass das Programm eine Täuschung war und die Sowjetunion in neue Kosten stürzen sollte. Doch im Gegenzug wurde die Operation RJaN (Atomraketenangriff) gestartet, bei der die Sowjetunion sogar ihre Militäraufklärer aus der Botschaft nachts zum Pentagon rennen ließ, um nachzuschauen, ob da Licht brennt – denn das wäre ein Indiz dafür, dass ein enthauptender nuklearer Erstschlag gegen uns in Vorbereitung ist. Damals waren wir leider in der Tat an den Rand des Krieges getreten und konnten erst davon wegkommen, als Gorbatschow an die Macht kam.

Doch damals gab es eine gewisse Vorhersehbarkeit: Da standen sich zwei Welten, zwei Entwicklungskonzepte, die beiden stärksten militärpolitischen Blocks gegenüber. Nichtsdestoweniger kam man nach der Berlin-Krise von 1961, nach der Kuba-Krise von 1962 doch zum Verständnis, dass man vom Rande dieses Abgrunds abrücken sollte. Deswegen verabschiedeten wir im Jahr 1986 eine wichtige gemeinsame Erklärung mit den US-Amerikanern, dass es im Nuklearkrieg keine Sieger geben kann und er daher nie geführt werden darf. Und jetzt befinden wir uns, meiner Ansicht nach, zumindest dem Niveau der Rhetorik nach, schon irgendwo jenseits der Grenze des Kalten Krieges. Viele führende russische Wissenschaftler erklären, wir seien fast schon mitten im Kalten Krieg 2.0 oder in einer Hybridversion des Kalten Krieges – und viele sehen uns gar in der Situation der 1930er-Jahre vor einem großen weltumfassenden Konflikt. Und leider fehlt es unseren Partnern an Verständnis dafür, wie gefährlich die Lage ist. Mit Sachen wie Nuklearwaffen oder gar einem nuklearen Krieg ist schlicht nicht zu spaßen. Und jetzt wird die Öffentlichkeit dahingehend konditioniert, dass es vielleicht ja gar nicht schlimm sei, dass er irgendwo einmal stattfindet – so ein kleiner nuklearer Konflikt.

Sprechen wir direkt von der nuklearen Bedrohung. In Russland sehen viele Experten die gegenseitige nukleare Abschreckung als etwas Nützliches an – zu diesen gehören Sie, wie ich verstehe, nicht. Warum nicht?

Nein – das ist gleichzeitig wahr und falsch. Einerseits teile ich die Ansicht unserer militärpolitischen Führung voll und ganz, und sie wird im Wesentlichen auch von den anderen fünf offiziellen nuklearen Großmächten – den ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrates – geteilt: Ein vollständiger Verzicht auf Nuklearwaffen – und Sie kennen ja den Atomwaffenverbotsvertrag – wäre, wie der russische Diplomat Lawrow es ausdrückte, naiv und gehört dem Reich der Fiktion an. Davon kann man nicht ernsthaft sprechen, solange die Lage derart angespannt bleibt. Doch andererseits: Diese Lage zu konservieren, auszusitzen, die Hände in den Schoß gesenkt, und zu erklären "Dann soll es eben so sein", wäre dasselbe, um es mit einem Alltagsbeispiel darzustellen, als ob wir beide jetzt bereit wären, uns gegenseitig zu ermorden, und das als einen Pfand unserer robusten Freundschaft erklären würden. Da bin ich doch der Ansicht, dass natürlich keine raschen Schritte angebracht sind, man aber dennoch daran arbeiten muss, die Bedrohung durch einen nuklearen Konflikt, sowie, ohne die nationale Sicherheit preiszugeben, das Niveau der nuklearen Konfrontation zu senken. Leider ist dieser Prozess ins Stocken geraten, gelinde ausgedrückt, beziehungswiese er hat sich aufgehängt. Das ist schade, wie ich betonen will – denn soweit ich das verstehe, ist unsere Landesführung dazu bereit und gab dies mehrfach bekannt.

Nun gibt wiederum Trump neuerdings immer öfter Erklärungen über eine Verlagerung des Wettrüstens in den Weltraum ab. Sind das denn nun nicht genau dieselben Star Wars, von denen Reagan sprach? Wie bewerten Sie die Chancen einer solchen Entwicklung?

Nun, diese Gefahr besteht. Das Thema geht mir besonders nahe, weil ich mich längere Zeit mit dem Problem der Nichtverlegung von Waffen in den Weltraum beschäftigte, und weil sie dort mit einem faktisch globalen Wirkungspotenzial sehr gefährlich sein können. Wir boten der ganzen Welt mehrfach an: "Lasst uns ein Abkommen schließen, damit das ausbleibt. Sprechen wir uns ab, um ein Wettrüsten zu vermeiden". Es gab eine bekannte russisch-chinesische Initiative, mit der wir seinerzeit auf der UN-Generalversammlung vorstießen. Die USA rücken aber davon ab. Mehr noch: Sie beschuldigen Russland und China, solche Systeme zu erschaffen. Ich denke, man muss die unkontrollierten Konsequenzen verstehen, zu denen das führen kann, solange es nicht zu spät ist. Denn solche Systeme zu kontrollieren, ist sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich – besonders, wenn das Hyperschallsysteme sind. Das würde dazu führen, dass wir unser gesamtes Abschreckungskonzept überdenken und zur Strategie des nuklearen Erstschlags wechseln müssten – und das wäre schrecklich.

Um zur gestrigen Konferenz zum Abzug der sowjetischen Truppen aus Europa Anfang der 1990er-Jahre zurückzukommen: Die sowjetischen Truppen wurden abgezogen, die US-Truppen hingegen befinden sich weiterhin in Deutschland. Rein hypothetisch: Welche Varianten für den Abzug dieser Truppen – ohne Gesichtsverlust – könnten Sie als Diplomat sich vorstellen?

Naja, seinerzeit wollten die sowjetische Regierung und Michail Gorbatschow persönlich sehr gern zeigen, dass die Sowjetunion ein zivilisierter Staat ist und nicht irgendein Reich des Bösen. Deswegen wurde beschlossen – und damals waren Konzepte wie die nichtoffensive Verteidigung, das Konzept von Olof Palme, Nuklearfreie Zone Europa oder der Rapacki-Plan sehr beliebt – doch die Situation war eine völlig andere, alle sahen sich an der Schwelle zu einer schönen neuen Welt und erst recht konnte niemand glauben, dass ehemalige Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes jemals NATO-Mitglieder werden wollen.

Diese schreckliche Frage, dass wir kein schriftliches Übereinkommen über Ostdeutschland erreichten, dass es nie Mitglied der NATO und dort niemals taktische Atomwaffen stationiert würden, entstand aus einer zum Himmel schreienden Naivität und Amateurhaftigkeit. Und unsere Partner – konkret kann ich Frau Thatcher nennen und die Franzosen – fragten uns: "Was tut ihr da überhaupt? Versteht ihr denn nicht, dass ihr so das ganze geopolitische System in Europa zum Einsturz bringt?"

Was ist jetzt machbar? Leider wurde der Prozess der Rüstungskontrolle in Europa zu Grabe getragen. Viele sind der Meinung, dass der damalige Vertrag veraltet ist, weil es keine Konfrontation zweier Blöcke mehr gibt. Wir können uns auch zu keinerlei konkreten Rüstungskontrollmaßnahmen einig werden – da sind zu viele politische Probleme und gegenseitige Vorwürfe. Auch unsere Wissenschaftler, Experten boten das mehrfach an: "Fangen wir doch mit irgendwelchen konkreten Maßnahmen zur Absenkung der Kriegsgefahr an, zur Stärkung des Vertrauens und der Transparenz." Wenn, Gott bewahre, ein US-Flugzeug beim Überflug eines unserer Kriegsschiffe – unseres flugzeugtragenden Raketenkreuzers zum Beispiel – auf dessen Deck abstürzt, was passiert dann? Oder wenn ein russisches Flugzeug abgeschossen wird, weil es sich an irgendeinen heiklen Ort verflogen hat? Das kann zu einer sehr üblen, langfristigen Krise führen – wenn nicht gleich zum Krieg. Wir sagen also: "Lasst uns doch über irgendwelche real mögliche Maßnahmen einig werden." Mehr Kommunikation, mehr Datenaustausch zwischen den Militärs. Gegenseitig über bevorstehende Manöver Bescheid geben, gegenseitig deren höchstzulässige Intensität festlegen, sie nicht in Grenzgebieten durchführen – und auch keine militärischen Objekte in Grenzgebieten einrichten.

Schauen Sie sich doch an, was die NATO-Staaten jetzt tun: Ich will keine Propaganda betreiben, aber unter der Ausrede, Russland wolle sie bald angreifen, werden in Polen und den baltischen Staaten immer größere NATO-Kontingente stationiert – vor allem US-Truppen. Natürlich wird das russische Militär alles tun, um diese Bedrohung zu neutralisieren – und das ist wirklich eine Bedrohung. Malen Sie sich das aus: Aus Estland braucht ein Flugzeug bis nach Sankt Petersburg zwei, drei Minuten. Das ist eine Bedrohung der strategischen Stabilität. Und wie antworten wir? Wir stationieren ja keine Truppen an den Grenzen. Natürlich vergrößern wir unsere Aufgebote, stellen neue Divisionen auf – doch sie befinden sich in drei- bis vierhundert Kilometern von den Grenzen entfernt.

Gottlob wurde in den letzten Jahren der NATO-Russland-Rat einberufen – nach der Krise 2014 wieder – doch da wurden alle 13 Arbeitsausschüsse praktisch aufgelöst, die Dinge abdeckten wie Bekämpfung der Piraterie und des internationalen Terrors bis hin zu Fragen der Raketenabwehr. Damit reden wir momentan leider aneinander vorbei, das ist ein Dialog unter Tauben. Obwohl ich nochmals sagen will: Das Wichtigste ist, dass man überhaupt beginnt, miteinander zu reden, denn die Lage in Europa spannt sich an. Ich bin als ehemaliger Diplomat dann doch dafür, dass man miteinander redet. Ein gutes russisches Sprichwort lautet: "Lieber mager Frieden als gut Streit". Davon sollten wir alle ausgehen – und auf ein Licht am Ende des Tunnels hoffen.

Viktor Igorewitsch, Sie nahmen gestern hier, im Museum der Bedingungslosen Kapitulation in Berlin Karlshorst, an einer Diskussion teil – darüber, wie man vom neuen Kalten Krieg abrücken kann, und wir haben ein Interview vereinbart. Doch Sie wollten das Interview nicht bei uns im Studio geben, sondern boten an, es hier zu drehen. Warum gerade dieser Ort?

Dieser Ort ist meines Erachtens symbolträchtiger. Dies ist ein heiliger Ort für alle Menschen der ehemaligen Sowjetunion, weil hier der schrecklichste Krieg – der Große Vaterländische Krieg des Sowjetischen Volkes – zu Ende ging und hier der Akt über die bedingungslose Kapitulation unterzeichnet wurde. Hier wurde der Schlusspunkt im Kampf gegen den Nationalsozialismus gesetzt. Auch für mich ist dieser Ort emotional sehr wichtig, er liegt mir am Herzen. Hierher rückte neben anderen Verbänden die Fünfte Armee vor, darunter auch die Pionierbrigade meines Großvaters, der in heldenhaften Kämpfen den Weg praktisch von Moskau bis nach Berlin zurücklegte.

Das Gespräch führte RT Deutsch-Redakteur Wladislaw Sankin. 

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