Meinung

Doppelpatt in Afghanistan – jahrelanges Nebeneinander von Verhandlungen und Bürgerkrieg in Aussicht

Im afghanischen Bürgerkrieg zeigt sich aktuell ein Doppelpatt: Keine Seite kann auf dem Schlachtfeld entschieden siegen – ja, nicht einmal volle Kontrolle über bereits beherrschte Gebiete ausüben. Verhandlungen sind also unabdingbar – doch auch da ist die Lage festgefahren.
Doppelpatt in Afghanistan – jahrelanges Nebeneinander von Verhandlungen und Bürgerkrieg in AussichtQuelle: Reuters © Ibraheem al Omari/File Photo

Kommentar von Alexander Knjasew

Als Ergebnis der aktiven Militäroperationen, die seit einigen Monaten in Afghanistan stattfinden, muss das klassische Patt festgehalten werden: Die Regierung in Kabul ist nicht in der Lage, den Großteil des Landes zu kontrollieren, und die Taliban verfügen ihrerseits nicht über die Mittel, um die von ihnen bereits besetzten Gebiete zu kontrollieren und ihre Offensive fortzusetzen. Der einzige Ausweg aus der Pattsituation könnten unmittelbare Verhandlungen zwischen der Regierungsseite und Taliban-Vertretern sein – doch auch hier ist die Situation genauso festgefahren.

Als Schlüsselfiguren in dieser Pattsituation sind allen Anzeichen nach Präsident Aschraf Ghani und sein innerer Kreis zu sehen: Sie weigern sich, die wichtigste Verhandlungsfrage zu akzeptieren – die Bildung einer Koalitions-Übergangsregierung unter Einschluss einer Taliban-Fraktion. Diese Frage wurde bereits im vergangenen Herbst in Doha bei zahlreichen Gelegenheiten mit internationalen Vermittlern erörtert, und es ist anzumerken, dass alle externen Teilnehmer am afghanischen Normalisierungsprozess einer solchen Lösung zustimmen würden (dies ist ein in den letzten Jahren sehr seltener Fall, bei dem sogar die Positionen Russlands und der Vereinigten Staaten übereinstimmen).

Gewalt der Taliban ohne Aussicht auf dauerhaften Gewinn – von der Regierung in Kabul provoziert

Gleich eingangs war klar, dass die aktuelle Offensive der Taliban mit dem einzigen Ziel geführt wurde, diesen zu möglichst vorteilhaften Vorbedingungen bei den Verhandlungen in Doha zu verhelfen. Doch gleichzeitig wurde die Hartnäckigkeit des (noch) offiziellen Kabul zum Katalysator für die radikalsten Bestrebungen einiger Taliban-Kommandeure, die Macht im Land mit militärischen Mitteln vollständig zu übernehmen. Allerdings scheint eine solche Übernahme nicht realistisch zu sein: Die jüngste Geschichte Afghanistans kennt ein solches Szenario. Zwar hatten im Jahr 1996 die Taliban "der ersten Einberufung" ihre Macht bereits in Kabul und in allen größeren Städten des Landes etabliert, mit Ausnahme einiger weniger Enklaven, die Widerstand leisteten. Jedoch hatte diese Macht bereits im Jahr 2000, noch vor der militärischen Intervention der USA und der NATO, sich selbst stark zersplittert. Das verdeutlicht die Unfähigkeit einer ihrem Wesen nach irregulären Bewegung, ein zentralisiertes Regierungssystem aufzubauen.

Darüber hinaus haben die meisten externen Akteure den Taliban bereits die roten Linien aufgezeigt, bei deren Übertritt es für die Bewegung höchst brisant wird: So würde etwa ein gewaltsam erzwungenes Machtmonopol von niemandem anerkannt. Wohl hat China noch keine Stellung bezogen, wird sich aber zweifellos vor einer solchen einseitigen Anerkennung hüten. Zudem warnte die russische Seite wiederholt vor der kategorischen Nichtanerkennung eines "Islamischen Emirats" als Form eines künftigen politischen Systems – insbesondere bei den Konsultationen in Moskau am 18. März dieses Jahres. Dasselbe war Thema der jüngsten Erklärung des UN-Sicherheitsrats. Eine provisorische Koalitionsregierung – und nur sie – muss (und darf) die Form des Regimes festlegen, einschließlich seiner Verankerung in der Verfassung.

 

Verhandlungen als Schicksal Afghanistans

Heute ist der Versuch der Taliban, noch irgendetwas zurückzuerobern, kein Triumphzug mehr. Noch weniger verdient der Versuch der Regierung Ghani, den Taliban irgendwie die Stirn zu bieten, eine solche Bezeichnung. Und so hat niemand in Afghanistan die Ressourcen für einen auch nur relativen, für einen auch nur bedingten Sieg. Das bedeutet eine unvermeidliche Rückkehr an den Verhandlungstisch. Und es scheint, als sei die Taliban-Führung sich dessen etwas mehr bewusst als das offizielle Kabul.

Mehr zum Thema – Russischer Diplomat: Zwei Drittel der Taliban-Kämpfer für politische Lösung in Afghanistan

Darin liegt der Grund für die aktive Diplomatie der Taliban-Delegationen und nicht, wie manchmal dargestellt wird, der Wunsch nach einer PR-Kampagne: Teheran, Moskau, Aschchabad, das chinesische Tianjin – dies ist beileibe keine vollständige Liste ihrer internationalen Kontakte allein in den letzten Monaten. Die Taliban brauchen internationale Anerkennung, um in legitime Machtstrukturen eingebunden zu werden. Das wiederum zwingt sie – zunächst natürlich nur verbal –, den Bedingungen externer Verhandlungspartner zuzustimmen.

Die Kompromissbereitschaft der Taliban ist sicherlich eine erzwungene. Man muss aber auch das Realitätsbewusstsein und den Pragmatismus anerkennen, die ihr zugrunde liegen.

Beides Obige entbehrt das Szenario, das die Regierung von Aschraf Ghani im Rahmen ihrer Selbsterhaltungsversuche mit allen Mitteln fördert. Damit wird Ghanis Regierung zum Haupthindernis für eine militärische Deeskalation des Konflikts. Ein Scheitern der Verhandlungen und weitere, wenn auch in jedem Fall erfolglose Versuche jeweils der Taliban und ihrer Gegner, eine Vormachtstellung mit militärischen Mitteln zu erreichen – so sieht das Szenario eines Verbleibs von Aschraf Ghani und seiner Entourage an der Macht aus, und es ist das pessimistischste aller möglichen Szenarien, die derzeit in Afghanistan denkbar sind.

Nicht einmal das schlechteste Szenario:

Nebeneinander von Verhandlungen und Kriegshandlungen

Dabei bedeutet die Rückkehr der beiden Seiten zu Verhandlungen und sogar die Bildung einer provisorischen Koalitionsregierung nicht die sofortige Einstellung aller Feindseligkeiten und die Herstellung eines absoluten Friedens. Eine solche Entwicklung bietet aber zumindest die einzige Chance auf eine Normalisierung, wenn auch nur auf lange Sicht. Die Kritiker des Verhandlungsprozesses in Afghanistan vergessen (oder wissen nicht), wie so etwas überhaupt funktioniert.

Geschichtlicher Exkurs zu den Nachbarn: Bürgerkrieg in Tadschikistan

Der Bürgerkrieg in Tadschikistan begann im Jahre 1992 und endete offiziell mit dem Moskauer Abkommen vom 27. Juni 1997 zwischen der Regierung und der Vereinigten Tadschikischen Opposition.

Seit April 1994 gab es innertadschikische Verhandlungen – in Moskau und Teheran, in Islamabad und Almaty, erneut in Moskau und erneut in Teheran und Islamabad, in Aschchabad, dann im afghanischen Hosdeh ... Die Verhandlungen wurden ausgesetzt und wiederaufgenommen, immer wieder – und während all dieser Zeit hörte der Krieg nicht auf. Das Einzige, was sich änderte, war die Härte der Kämpfe – mal mehr, mal weniger intensiv. Und auch nach dem Juni 1997 wurde der Krieg nicht sofort beendet, sondern dauerte noch bis Anfang der 2000er Jahre an – und die letzten radikalen Gruppierungen der ehemaligen Opposition wurden erst Anfang der 2010er Jahre neutralisiert.

Frieden entsteht nicht von heute auf morgen oder über Nacht – auch der mit am häufigsten verwendete Ausdruck "Friedenskonsolidierung" denotiert einen fortdauernden Prozess und kein einmaliges Ereignis ...

Und die Lage in Afghanistan übertrifft die in Tadschikistan in den 1990er Jahren an Komplexität und Maßstab um ein Vielfaches. Grund hierfür ist die Tiefe der innerafghanischen Ursache-Wirkungsgefüge sowie die Dauer und die Verwurzelung des innerafghanischen Konflikts. Auch gab es im tadschikischen Konflikt nicht so viele externe Akteure auf globaler Ebene – während in Afghanistan externe Interessen mit schlicht übermäßiger Intensität aufeinanderprallen.

Sprich: Krieg ist Krieg, und Verhandlungen sind Verhandlungen.

Ob wahr oder falsch – angebliche Verbindungen der Taliban zum Weltterrorismus hindern Kabul an Zusammenarbeit

Am 3. August erklärte der Außenminister der Islamischen Republik Afghanistan Hanif Atmar gegenüber der russischen Zeitung Iswestija, die Regierung in Kabul sei bereit, "die Taliban in eine Art Machtteilungsabkommen einzubeziehen und mit ihnen zusammenzuarbeiten". Das knüpfte er jedoch an die Bedingung, dass die Taliban keine Verbindungen mit internationalen terroristischen Gruppierungen unterhalten und solche Gruppierungen aus dem Land entfernt werden sollen. Diese Bedingung kann man im Allgemeinen nicht neu nennen: Sie wird seit mehreren Jahren in verschiedenen Verhandlungs- und Konsultationsrunden zu Gehör gebracht, sie ist auch in der Vereinbarung zwischen den USA und den Taliban vom Februar 2020 enthalten, die die Taliban-Delegation verbindlich mit unterschrieb. Den Hintergrund dieser neuesten Erklärung des afghanischen Ministers bildet jedoch ein mächtiger Informationsfluss zu angeblichen Verbindungen zwischen den Taliban einerseits und Al-Qaida und anderen ähnlichen Organisationen andererseits. Diese Verbindungen werden von Vertretern der Kabuler Regierung und der USA beständig thematisiert – und einen weiteren ernstzunehmenden Anteil an der Verbreitung derartiger Information im globalen Informationsraum haben beispielsweise indische Medien.

Die Regierung in Kabul kann man verstehen – solche Information erweckt zuallermindest den Anschein, als sei die Zurückhaltung der Regierung bei der Wiederaufnahme von Gesprächen gerechtfertigt.

Auch die US-Amerikaner kann man verstehen; nicht ausgeschlossen außerdem, dass sie solche Gerüchte nutzen könnten, um sich irgendwann mit einer Rückkehr nach Afghanistan zurückzumelden – oder ihrem alten Gerede von der Bekämpfung des internationalen Terrorismus neue Frische zu verleihen. Noch leichter lässt sich die Aktivität der indischen Presse erklären: Der nationalistischen Hindu-Elite in Neu-Delhi ist jeder Vorwand recht, um nicht nur in Richtung Pakistan Steine zu werfen, sondern generell auf alles, was irgendwie mit der islamischen Religion zu tun hat. Die Liste solcher "Quellen" ließe sich beliebig fortsetzen. In dieser Informationskonfrontation schaut jeder nach seinem eigenen Vorteil.

Bemerkenswert, dass Russlands Außenministerium, das so gar kein Interesse an der Unterstützung von Al-Qaida hat, diese Berichte für nichts weiter hält als Gerüchte. Nach Wertung von Experten ist Al-Qaida in Afghanistan heute nur eine kleine Gruppe von nicht mehr als 500 Personen, die sich nicht an Kampfhandlungen beteiligt. Wie einer Netzwerkstruktur geziemt, hat es sich schon immer ausschließlich auf gezielte Angriffe konzentriert, keineswegs auf positionsbezogene Kriegsführung (des militärischen Zweigs Nusra-Front in Syrien ungeachtet. Anm. d. Red.).

Die Islamische Bewegung Usbekistans ist eine weitere ähnliche Gruppe nicht-afghanischen Ursprungs, die einst mit den Taliban in Verbindung stand. Sie verfügte einst über mehrere tausend Milizkämpfer. Viktor Michailow, ein in Taschkent ansässiger Experte, der diese Fragen spezifisch und mit Tiefgang untersucht, stellt fest, dass die Lage heute ganz anders ist: Es gibt nicht mehr als 300 usbekische Staatsangehörige in den internationalen terroristischen Organisationen in Afghanistan, und sie sind nicht mehr die gleiche Art Träumer wie früher – bei ihnen haben der Optimismus und der Wunsch, ein Kalifat aufzubauen, etwas andere Ausmaße.

Übrigens sei darauf hingewiesen, dass die Beförderung der Islamischen Bewegung Usbekistans aus den Reihen aktiver Terroristen ausgerechnet den Taliban zu verdanken ist: Sie zerschlugen die Gruppierung im Jahr 2015, als die usbekischen Milizkämpfer den Abgesandten der Terrormiliz Islamischer Staat die Treue schworen. In mehreren Gebieten Afghanistans wird der Kampf gegen Banden des IS in den letzten Jahren ausgerechnet – und ausschließlich – von den Taliban geführt.

Übersetzt aus dem Russischen

Alexander Knjasew ist Doktor der Geschichtswissenschaften, Mitglied der Russischen Geographischen Gesellschaft, Orientalist.

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