Meinung

Analyse zur Niedersachsen-Wahl: Warum gewinnt Grün?

Wähler bestimmen eine Wahl, nicht jene Kräfte, die nach der Ansicht so mancher Kritiker die Zügel in der Hand zu haben scheinen. Denn niemand wählt mit der Waffe an der Schläfe. Es stellt sich somit die Frage, welches politische Denken sich im Wahlerfolg der Grünen äußert.
Analyse zur Niedersachsen-Wahl: Warum gewinnt Grün?Quelle: www.globallookpress.com © Norbert Neetz via www.imago-imag/www.imago-images.de

Von Rüdiger Rauls

Ausdruck politischen Bewusstseins

Wahlergebnisse sind Spiegel der Gesellschaft und des politischen Bewusstseins ihrer Bürger. Das Weltbild der Wähler und der Parteien, die sie wählen, sind weitgehend identisch, sonst würden sie ihnen nicht ihre Stimme geben. Je mehr Menschen an den Wahlen nicht mehr teilnehmen, umso deutlicher wird, dass sie sich von keiner der Parteien vertreten fühlen. Das bedeutet, dass ihr Weltbild und das der Parteien nicht mehr zusammen passen.

Wenn auch am 9.10. in Niedersachsen eine Landtagswahl stattfand, so hatten regionale Themen dennoch eine nur untergeordnete Bedeutung. Angesichts des Kriegs in der Ukraine spielte die Bundespolitik die bestimmende Rolle. Diejenigen, die ihre Wahlzettel abgaben, konnten sich nicht freimachen von den Stimmungen, Ängsten und Bedürfnissen, die ihren Alltag in der letzten Zeit bestimmt hatten. Diese flossen also ein in ihre Wahlentscheidung.

Wenn die Bürger überhaupt wählten, dann jene Parteien, die nach dem eigenen Weltbild Lösungen zu haben schienen, die diesem entsprechen. Denn letztlich sind es immer die Wähler, die eine Wahl bestimmen. Ihr politisches Bewusstsein entscheidet den Ausgang der Abstimmung. Wahlergebnisse sind somit Ausdruck von politischem Bewusstsein, das in einer Gesellschaft herrscht, und seiner Verteilung in den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen.

Wahlergebnis Niedersachsen

Bedeutsam war die geringe Wahlbeteiligung von knapp 60 Prozent. Das macht deutlich, dass sich 40 Prozent der Wahlberechtigten keine Lösungen für ihre Probleme erwarteten und ihre Stimmabgabe daran nichts ändern würde. Das waren weniger als bei der letzten Landtagswahl, wo immerhin noch 63 Prozent der Wähler zu den Urnen gegangen waren. Wie hoch muss die Frustration sein trotz der schwierigen Zeiten?

Aus dieser Stimmungslage gingen die AfD und die Grünen als die eindeutigen Profiteure hervor.  Die Zuwächse der AfD sind angesichts der angespannten Lage durch den Ukraine-Krieg noch am besten nachvollziehbar. Denn sie ist die einzige Partei, die den Kriegskurs der deutschen Regierung ohne Vorbehalte ablehnt. Damit bedient sie am ehesten die Interessen jener, die ein Ende der Sanktionen, die Öffnung von Nord Stream 2 und die Aufnahme von Verhandlungen mit Russland fordern.

Als einzige Partei musste sie keine Wählerstimmen an andere abgeben. Im Gegenteil sogar flossen ihr Stimmen aus allen Lagern zu, auch von den Nichtwählern, nicht jedoch von den Grünen. Bei allen anderen Parteien gab es Schnittmengen sowohl mit den Grünen als auch mit der AfD, was die Wählerwanderung verdeutlicht und erklärt. Nur zwischen diesen beiden Parteien selbst fand kein Austausch statt.

Das deutet auf eine grundsätzliche Unvereinbarkeit in politischem Bewusstsein und Weltbild zwischen diesen beiden Lagern hin. Sie stehen für grundsätzlich Verschiedenes.

Einstellung zum Krieg

Es ist nicht die Einstellung zum Krieg, die diesen Unterschied ausmacht. Während alle kriegsbefürwortenden Parteien Stimmen verloren, wuchs gerade bei den Grünen als schärfster Kriegsbefürworterin innerhalb der Regierung die Zustimmung. Sie gewannen in absoluten Zahlen 190.000 Stimmen hinzu, was relativ einem Zuwachs von 5,8 Punkten auf jetzt 14,5 Prozent entspricht.

Andererseits verlor die FDP mit ihrer Kriegstreiberin Agnes Strack-Zimmermann 120.000 Stimmen, was einen relativen Verlust von 2,8 Prozent bedeutet. Die FDP fiel von 7,5 Prozent bei der Landtagswahl 2017 auf nunmehr 4,7 Prozent und ist damit im Landtag von Niedersachsen nicht mehr vertreten.

Selbst die CDU als größte Oppositionspartei konnte aus dem Kriegskurs der Regierungsparteien keinen Vorteil für sich erringen. Ihr Versuch, die Regierung durch noch schärfere Maßnahmen gegenüber Russland und eine noch stärkere Unterstützung für die Ukraine an Radikalität zu überbieten, wurde offensichtlich von der Bevölkerung in Niedersachsen überhaupt nicht geschätzt. Als die ausgewiesen schärfste Kriegsbefürworterin verlor gerade die CDU am stärksten von allen Parteien. Ihr Minus betrug 270.000 Stimmen, was relativ nur noch 28,1 Prozent entspricht, ein Minus von 5,5 Prozentpunkten.

Es kann also die Einstellung zum Krieg nicht das entscheidende Kriterium für den Sieg der Grünen sein, wenn Kriegsbefürworter wie CDU, SPD und FDP Stimmen einbüßten, während die Grünen als ebensolche Kriegsbefürworterin Stimmen dazugewannen. Andererseits gewann aber auch die AfD Stimmen dazu, obwohl diese gerade die deutsche Parteinahme auf Seiten der Ukraine ablehnt. Es verzeichneten somit sowohl die stärksten Kriegsbefürworter als auch die stärksten Kriegsgegner Stimmengewinne.

Staatstragender Protest

Die oben erwähnte grundsätzliche Unvereinbarkeit zwischen Grünen und AfD sowie ihren Anhängern gründet auf unterschiedlichen Interessen und Weltbild.

Die Grünen und ihre Anhänger sind zu Haus in den "besseren" Teilen der Gesellschaft. Sie gehören zu den Besserverdienenden mit den formal besseren, in der Regel akademischen Abschlüssen. Sie sind die Bewohner der großen Städte, wo sie sich in der Regel eigene, grün durchdrungene, meist teure Wohn-Biotope geschaffen haben. Sie geben sich weltoffen, kulturell interessiert und sozial engagiert. Alternativ zum Fahrrad nutzen sie das Elektroauto. Das ist die Außenwahrnehmung der Gesellschaft auf das grüne Milieu.

In ihrer Selbstdarstellung sind sie werteorientiert und staatstragend. So geben sich nach einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung über die Landtagswahl vom 9.10.2022 die Anhänger der Grünen zu 86 Prozent mit der Demokratie zufrieden und 62 Prozent von ihnen sehen in den herrschenden politischen Verhältnissen keinen Anlass zur Beunruhigung.

Auch die aktuellen gesellschaftlichen Themen sind für sie kein Grund zur Sorge. Preissteigerungen spielen nur für 34 Prozent eine bedeutende Rolle und bei der Energiesicherheit sind es sogar nur 31 Prozent. Selbst in der Ukraine-Frage sind die Gründenkenden voll auf Regierungskurs. Als selbsternannte Friedenspartei unterstützen sie die Waffenlieferungen zu 68 Prozent, womit sie über dem Durchschnitt der Gesellschaft liegen.

Anhand dieser Werte müssen die Grünen und ihre Anhängerschaft, die sich in ihrer Selbsteinschätzung als kritisch verstehen, eher als unkritisch und angepasst angesehen werden denn als Protestpartei. Das einzige Politikfeld, in dem sie gegenüber dem Staat auf Distanz gehen, ist Umwelt im weitesten Sinne. In der Grünen-Wählerschaft dominiert mit 58 Prozent das Thema Klima. Dementsprechend befürworten auch nur 16 Prozent von ihnen die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken.

Im Gegensatz zu den Grünen gehören die meisten Wähler der AfD nicht zu den Besserverdienern. In Niedersachsen bestand ihre Wählerschaft zu einem Viertel aus Arbeitern, wenn diese denn überhaupt zur Wahl gingen. Der Unterschied der Milieus drückt sich aus in den von den Grünen vollkommen verschiedenen Einstellungen zu den bestimmenden gesellschaftlichen Themen.

Aufgrund ihrer guten wirtschaftlichen Verhältnisse bezeichnen nur 38 Prozent der Grünen-Anhänger ihre Wirtschaftslage als schlecht, innerhalb der Anhängerschaft der AfD beträgt dieser Anteil 79 Prozent. Dementsprechend sind 84 Prozent der Anhänger der AfD über die steigenden Preise beunruhigt, aber nur 34 Prozent der Grünen.

93 Prozent der AfD-Anhänger sind besorgt über die gesellschaftlichen Verhältnisse und nur 17 Prozent von ihnen sind der Meinung, der Bund sollte die Ukraine konsequenter unterstützen. Diese Verschiedenheit in der Lebenslage der AfD-nahen Kreise von den Grünen prägt deren unterschiedliche und teilweise unversöhnlichen Weltbilder. Sie bestimmt die Wahlentscheidungen.

Woke und sexy

In der Wählerschaft von AfD und Grünen setzen sich alte Klassenmerkmale fort, nur dass diese nicht als solche zutage treten und verstanden werden. Klassenbewusstsein liegt weder bei dem einen noch bei dem anderen Milieu vor. Es kann jedoch von unterschiedlichen Prägungen gesprochen werden. Diese ist besonders bei den Anhängern der AfD eher proletarisch, bei Grünen eher mittelständig und intellektuell-akademisch.

Das grüne Milieu zählt nicht nur wegen seiner wirtschaftliche Lage und seiner formal höheren Bildung zum "besseren" Teil der Gesellschaft. Es wird auch in der öffentlichen Darstellung als werteorientiert wahrgenommen, was ihm den Anstrich moralischer Überlegenheit gibt. Es setzt sich ein für Minderheitenrechte, für Umwelt, Tierwohl und Klima. Damit versucht es, sich vom Rest, besonders aber dem rechten Rand der Gesellschaft abzuheben.

Grün zu denken ist modern, gleichsam sexy. Vor allem steht man mit grünem Gedankengut und Wertesystem auf der richtigen, d.h. unangreifbaren Seite der Gesellschaft und Diskussion. Ähnlich dem Katholizismus bietet das grüne Gedankengut für jede gesellschaftliche Verfehlung eine Mischung aus Beichte, Reue und Ablasshandel an.

Man kann bereuen, den umweltbelastenden SUV zu fahren, aber gleichzeitig darauf verweisen, dass  man zum Ausgleich meistens Rad fährt oder den elektrisch betriebenen Zweitwagen. Schuldmindernd wirkt auch vegane oder vegetarische Ernährung, weil sie eine positive CO2-Bilanz hinterlässt.

Und wenn schon Fleisch konsumiert wird, dann Biofleisch, keineswegs aus Massentierhaltung  wie der prollige Aldi-Käufer. Das hilft vielleicht nicht unbedingt dem CO2-Haushalt der Atmosphäre, wirkt aber sympathisch und schuldmindernd, weil es dem Tierwohl dient. Damit ist das schlechte Gewissen wieder geläutert. Gleiches gilt für die in diesen Kreisen so beliebten Urlaubsreisen. Auch hier kann man Schuldgefühle narkotisieren, indem man bei seinen Flugreisen einen CO2-Ausgleich zahlt.

Es gibt also für jede Verfehlung auch einen Ablass und damit Buße für das Gewissen zu verträglichen Mehrkosten. Zudem schützt dieses Bekenntnis zum  eigenverantwortlichen Handeln vor gesellschaftlicher Ächtung. Man bekennt, bereut und zahlt Ablass, der katholische Dreiklang.

Selbst mit seiner Unterstützung für die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine liegt man als Gründenkender richtig. Denn die Kriegsunterstützung im Sinne der NATO erfolgt nicht wie bei den Altparteien, besonders der CDU, aus niederen Motiven wie Revanchismus, Machtgelüsten und Russenhass. Das wäre diskriminierend, rassistisch und in grünen Sinne nicht akzeptabel.

Nein! Als Grüner unterstützt man die Parteinahme für die NATO aus moralisch hochwertigen Gründen. Man tritt ein für das Menschenrecht der Ukrainer, sicher zu sein vor ausländischer Aggression, für das Recht auf nationale Selbstbestimmung und Integrität. So kann man sich immer noch als Friedenspartei verstehen und gleichzeitig Krieg unterstützen. Solche Doppelmoral ist attraktiv für all jene, die öffentlich Wasser predigen und heimlich Wein trinken und sich dabei im Glauben moralischer Überlegenheit sonnen.

Die faschistoiden Tendenzen der heutigen Gesellschaft äußern sich nicht mehr in Vorstellungen von rassischer, sondern in der Selbsttäuschung eigener moralischer Überlegenheit. Zum offenen Faschismus gehört dann nur noch die Überzeugung, aufgrund eigener Überlegenheit höhere Rechte zu haben als andere, womöglich sogar höhere Lebensrechte.

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