Meinung

Was Russland hätte besser machen können: Aktuelle Fehleinschätzungen

Im Nachhinein ist man meist klüger. Dies gilt für den Kreml, aber noch mehr für Brüssel und Berlin. Offensichtlich wurden das Potenzial und die Bereitschaft der US-Führung zur Eindämmung Russlands unterschätzt. Manche Fehler sind allerdings "hausgemacht". Teil 4 einer vierteiligen Serie.
Was Russland hätte besser machen können: Aktuelle FehleinschätzungenQuelle: Sputnik © Sputnik

Teil 1, 2 und 3 finden Sie hier, hier und hier.

Von Bernd Murawski

In diesem vierteiligen Beitrag wird die Frage erörtert, welche alternativen Optionen sich Russland zur Durchsetzung seiner politisch-strategischen Ziele geboten hätten. Dabei ist Moskaus schwache Ausgangsposition Ende der 90er Jahre ebenso zu berücksichtigen wie die Interessen der westlichen Staaten und das globale Kräfteverhältnis. Im Zentrum der folgenden Betrachtungen stehen die russisch-deutschen Beziehungen, die sich besonders im letzten Jahrzehnt massiv verschlechtert haben.

Im ersten Teil wurde die Bedeutung wirtschaftlicher Abhängigkeiten erörtert, die beidseitig bestehen und den Handlungsspielraum der politischen Akteure limitieren. Der zweite Teil problematisierte die russischen Entscheidungen während des Post-Maidan-Zeitraums. Da die Wertediskussion im russisch-westlichen Verhältnis eine wachsende Rolle spielt, wurden im dritten Teil russische Argumentationsschwächen thematisiert. Dieser vierte und letzte Teil hinterfragt die militärstrategischen Entscheidungen des Kremls im Ukraine-Konflikt.

Fehleinschätzungen und Zaghaftigkeit

Bei einer nachträglichen Betrachtung der im Februar begonnenen "militärischen Sonderoperation" Russlands erscheinen einige Maßnahmen plausibel, und andere unverständlich. Das zu Beginn aufgebaute Drohszenario mit der Ausschaltung der Luftverteidigung und dem "Marsch auf Kiew" verfolgte offenbar das Ziel, der ukrainischen Regierung die Ausweglosigkeit der eigenen Lage zu demonstrieren. Dies schien dem Kreml auch zu gelingen, wie der Verlauf der Verhandlungen bis Ende März zeigte. Die westliche Invention unter Führerschaft der USA und Großbritanniens hat diesen Plan jedoch vereitelt.

In den Folgemonaten hoffte die russische Seite wohl weiter auf eine Verhandlungslösung, weshalb sie sich mit einem Beschuss ziviler Objekte weitgehend zurückhielt. Dass die Lage angesichts der ukrainischen Mobilisierungen und der westlichen Waffenlieferungen nach dem Sommer brenzlig werden würde, war jedoch abzusehen. Wenn sich jetzt anlässlich der russischen Teilmobilmachung 70.000 Freiwillige gemeldet haben, stellt sich die Frage, weshalb zumindest diese Reserve nicht früher einberufen wurde.

Offenkundig bedurfte es einer propagandistischen Vorbereitung an der Heimatfront, was zu Beginn der Militäraktion zu wenig Beachtung fand. Vermutlich mussten auch ausländische Partner von der bevorstehenden Eskalation des Konflikts in Kenntnis gesetzt bzw. deren Zustimmung eingeholt werden. Der geeignete Ort dafür war der SOZ-Kongress in Samarkand vor ein paar Wochen, auf dem die Staatsführer wichtiger Staaten persönlich anwesend waren.

Die Verzögerungen führten zu einem schmerzlichen Verlust von Territorien, darunter auch solchen, die im Anschluss an die Referenden zu russischem Staatsgebiet erklärt worden waren. Dies warf ein schlechtes Bild auf die russische Militärführung, was schließlich zu personellen Konsequenzen führte. Die an der Front erlittenen Rückschläge erhöhen zweifellos die künftigen Herausforderungen. Zum einen dürfte eine Wiedereinnahme der verlorenen Gebiete kaum ohne größere Zerstörungen zu bewerkstelligen sein, zum anderen wird sie zusätzliche Opfer unter den Militärangehörigen sowie Verluste an Kriegsmaterial fordern.

Probleme bei der Übernahme der südlichen Gebiete

Bislang wenig problematisiert wurde der Anschluss der Gebiete Cherson und Saporoschje an die Russische Föderation. Dass gerade diese Gebiete erobert wurden, lässt sich nicht damit begründen, dass der mit Russland sympathisierende Bevölkerungsteil dort besonders groß wäre. Wie frühere Wahlergebnisse und der Anteil der russisch-sprachigen Bürger zeigen, wären Odessa und Charkow weitaus bessere "Kandidaten" gewesen.

Eine militärische Übernahme der südlichen Gebiete gelang in der Frühphase der Kämpfe recht schnell. Danach sah sich die russische Verwaltung mit dem Dilemma konfrontiert, dass kooperationsbereite Bürger Angst hatten, als Kollaborateure gebrandmarkt und bedroht zu werden, wenn die Gebiete an die Ukraine zurückgegeben würden. Die Situation änderte sich erst im Sommer, als Russland Referenden ankündigte und hoffte, dass sie positiv ausfallen würden. Mit dem wiederholten Beschuss ziviler Objekte hat die ukrainische Armee dazu einen ungewollten Beitrag geleistet.

Ein wichtiges Ziel des Vormarsches in der Oblast Cherson war die Beseitigung eines Damms, mit dem die ukrainische Führung jahrelang die Bewässerung der Krim verhindert hatte. Da die Unterbrechung der Wasserversorgung nach gängigen Interpretationen eine international geächtete Rechtsverletzung darstellt, wäre eine Zerstörung der Barriere durch russische Raketen bereits zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung angemessen gewesen. Auch hätte der Kreml drohen können, die Gaslieferungen an die Ukraine zu unterbrechen, wenn sich Kiew einer Vereinbarung über die Nutzung des Krimkanals widersetzt.

Als weiteres Argument für die Eroberung der südlichen Gebiete wird die Notwenigkeit einer Landverbindung zur Krim vorgebracht. Nach Fertigstellung der Krim-Brücke scheint die Versorgung der Halbinsel jedoch weitgehend gesichert zu sein. Der aktuelle Sabotagefall zeigt, dass die Konstruktion recht stabil ist, was wiederholt geäußerte Sorgen einer Zerstörung des Bauwerks durch Artilleriebeschuss dämpft. Zudem ist die maximale Reichweite der Raketen, die das ukrainische Militär aus westlichen Arsenalen erhalten hat, mit etwa 150 km zu gering. Dagegen reicht die Entfernung für Schläge gegen Transportverbindungen durch die Gebiete Saporoschje und Cherson.

Vermeidbare Todesopfer und Zerstörungen

Mehrfach wurde die Frage aufgeworfen, ob Todesopfer und Zerstörungen ziviler Einrichtungen im geschehenen Umfang notwendig waren. Zumal das Ziel Russlands, die angegliederten Regionen von ukrainischen Truppen zu befreien, noch in weiter Ferne liegt. Doch selbst nach Bewältigung dieser Aufgabe dürfte kaum Ruhe an der Front einkehren. Die ukrainischen Raketen- und Drohnenangriffe wie auch Sabotageakte werden wahrscheinlich weitergehen. Ebenso ist unklar, wie eine Neutralisierung der Ukraine, das heißt der Verzicht auf NATO-Mitgliedschaft und Stationierung von NATO-Militäreinheiten, erreicht werden soll.

Hier hätte sich eine Alternative angeboten, die zu weit weniger zivilen Opfern und Zerstörungen geführt und die Ukraine bald an den Verhandlungstisch gezwungen hätte. Nach der Vernichtung der ukrainischen Raketenabwehr, die zu Beginn der Militäroperation erfolgte, hätte Russland eine Vielzahl von Objekten bedrohen sollen, die für das Funktionieren des Staates unerlässlich sind. Dazu gehören wichtige Produktionsanlagen, Transportwege und andere Infrastruktureinrichtungen sowie Verwaltungs- und Entscheidungszentren. Mögliche Ziele wären Flughafenterminals, Bahnhöfe, Hafenanlagen, wichtige Straßenabschnitte und Brücken, Produktionsstätten und Lagerhäuser sowie Regierungs- und Verwaltungseinrichtungen.

Die betroffenen Objekte würden öffentlich bekannt gemacht, damit sich die potenziell Betroffenen in Sicherheit begeben können. Bei einer Angriffsoperation würden indes nur ein paar davon zerstört. Dennoch ist anzunehmen, dass die Bürger alle gefährdeten Orte meiden. Bereits ein Risiko von 1:1000 erscheint zu hoch, um sich an einen Platz zu begeben, der als nächster von russischen Raketen getroffen werden könnte. Landstraßen, Bahnhöfe und Flughafenterminals würden sich leeren, Beschäftigte in bedrohten Betrieben und Dienststellen würden nicht zur Arbeit erscheinen.

Um den psychologischen Effekt zu verstärken, könnten die zu zerstörenden Objekte mithilfe eines geheimen Zufallsalgorithmus ermittelt werden. Mit einem weiteren Algorithmus würde der Zeitabstand zur vorherigen Aktion bestimmt, der zwischen ein und sieben Tagen liegen könnte. Als Zufallsfaktor könnte beispielsweise die alphabetische Position des drittletzten Buchstabens auf der zweiten Seite einer australischen Zeitung vom gleichen Tag dienen. Nach zehn Angriffsaktionen würde der Algorithmus veröffentlicht, um zu beweisen, dass die Auswahl zufällig und nicht nach dem Ermessen der Militärführung erfolgte. Gleichzeitig würde die Objektliste aufgefüllt und ein neuer Algorithmus kreiert.

Auf diese Weise ließe sich mit einer begrenzten Anzahl von Angriffen eine maximale Wirkung erzielen. Russland könnte seinen waffentechnischen Vorsprung nutzen, den es durch die Entwicklung von Hyperschallraketen erlangt hat. Zugleich sollte der Aktionsradius der ukrainischen Armee eingeschränkt werden. Die Front müsste gehalten, der Einsatz weitreichender Angriffswaffen unterbunden und die russische Luftabwehr gestärkt werden.

Orientierung auf Referenden

Verlangt werden sollte kein bedingungsloser Rückzug der ukrainischen Armee, sondern die Durchführung einer Volksbefragung unter UN-Aufsicht. Auch sollte Russland seine Bereitschaft erklären, die bereits durchgeführten Referenden unter Anwesenheit von UN-Beobachtern zu wiederholen. Beide Konfliktparteien müssten sich im Voraus verpflichten, den Willen der Bürger zu respektieren und ihr Militär im Fall eines negativen Votums abzuziehen. Ein solches Verfahren entspricht tendenziell dem im Westen zurückgewiesenen Vorschlag von Elon Musk.

Im Donbass dürfte eine Mehrheit der Bürger Kiew den Rücken kehren wollen. Da im Gebiet Donezk nur etwa 30 Prozent der Bevölkerung im ukrainisch kontrollierten Teil leben, ist eine absolute Mehrheit der Stimmen auf Bezirksebene bereits durch das frühere Votum gesichert. Komplizierter ist die Lage im Gebiet Saporoschje, da sich auf beiden Seiten der Konfliktlinie ein etwa gleich großer Bevölkerungsteil befindet. Angesichts der russischen Bombardements in den letzten Wochen erscheint es durchaus möglich, dass sich die nördliche Hälfte mit der Oblast-Hauptstadt für einen Verbleib in der Ukraine ausspricht. Dies sollte Moskau ebenso respektieren wie Kiew die Angliederung des südlichen Teils an Russland.

Einige der in der Artikelserie genannten "guten Ratschläge" sind inzwischen überholt. Wie die Westeuropäer vor ungelösten wirtschaftlichen Herausforderungen stehen, weil sie ihre Lage überschätzt haben, muss die russische Führung früher begangene Fehler gegenwärtig ausbaden. Ein zeitiges Streben nach Unabhängigkeit von westlichen Technologien, mehr Realismus im Umgang mit westlichen Politikern, eine offene Wertedebatte im eigenen Land und besser durchdachte Militäraktionen hätten die Position Russlands verbessert und Opfer verhindert.

Gleichwohl herrschte zuweilen Verwirrung über die russischen Ziele. Anstelle schwammige Begriffe wie "Entmilitarisierung" und "Entnazifizierung" zu verwenden, hätten die Forderungen klar benannt werden sollen. Zum einen geht es um die "Unteilbarkeit der Sicherheit", die zwar im Pariser Abkommen 1990 vereinbart wurde, aber Russland bislang nicht zugestanden wurde. Zum anderen sollte den prorussischen Oblasten das Recht eingeräumt werden, sich mittels Referenden vom ukrainischen Staatsverband abzuspalten. Nach acht Jahren Bürgerkrieg und der Unterdrückung der russischen Sprache und Kultur dürfte das Vertrauen in die Kiewer Führung irreparabel zerstört sein.

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